Als Gabriel dieses Volk, das sein eigenes Volk war, überschaute, wandelte ihn ein plötzliches Entsetzen an. Sein Herz kam angstvoll aus dem Takt. Wieder einmal war die Wirklichkeit völlig verschieden von dem Begriff, den er sich von ihr gemacht hatte. Dies waren nicht dieselben Menschen, die er täglich in den Dörfern sah, die den Gegenstand seiner kühnen Berechnungen bildeten. Tödliche Strenge und Bitterkeit starrte ihn aus aufgerissenen Augen an. Gesichter rings wie gedörrte Früchte. Selbst die Wangen der Jugend dünkten ihn gefurcht und faltig. War er auf seinen Forschergängen in den Bauern- und Handwerkerstuben gesessen, so hatte er die Wahrheit ebensowenig gesehen wie ein Reisender, der eine Ortschaft im Wagen durchquert. Jetzt erst in dieser mächtig aufhorchenden Stunde geschah die erste Berührung zwischen dem Entwurzelten und seinem Stamm. Alles, was er in seinem Zimmer durchdacht und ausgearbeitet hatte, kam ins Schwanken. So fremd, so unheimlich war der Anblick derer, die er mit sich reißen wollte. Frauen, die noch ihr Sonntagsgewand mit seidenen Kopftüchern trugen, Münzenschmuck um den Hals und klappernde Hülsen von Armbändern an den Gelenken. Manche waren auf türkische Art gekleidet. Ihre Beine steckten in weiten Pluderhosen und über die Stirn hatten sie den Feredjeh gezogen, obgleich sie fromme Christinnen waren. Die Nachbarschaft brachte solche Angleichungen mit sich, besonders in den äußeren Dörfern, wie Wakef und Kebussije. Gabriel sah die Männer in ihren dunkeln Entaris, auf den bartumrahmten Häuptern den Fez oder die Fellmütze. Da es warm war, hatten einige das Hemd geöffnet und zeigten die Brust. Sonderbar hell leuchtete die Haut unter den verbrannten, vogeldürren Bauernhälsen. Die weißen Prophetenköpfe blinder Bettler tauchten da und dort aus der Masse wie eine neugierige Schuldforderung an den Jüngsten Tag. Ganz vorne stand Kework, der Tänzer mit der Sonnenblume. Auch der Gesichtsausdruck des Kretins glich nicht mehr einem diensteifrigen Lallen, sondern einem Vorwurf, der von dieser zu jener Welt hinüberreichte. Gabriel fuhr mit eiskalter Hand über den englischen Stoff seines Anzugs. Wie Brennesseln rührte er sich an. Und zugleich wuchs die Frage: Warum gerade ich!? Wie soll ich zu ihnen sprechen!? Was maße ich mir an? Wie eine Sonnenfinsternis fuhr die Verantwortung, die er auf sich nahm, mit Fledermausschatten über ihn hin. Ein schäbiger Gedanke: Weg von hier! Noch heute! Gleichviel wohin! Ter Haigasun begann seine ersten Worte langsam in die Massen einzuschlagen. Immer vernehmlicher hafteten sie in Gabriels Ohr. Worte und Sätze gewannen Sinn. Die Sonnenfinsternis wich von seinem Himmel.
Ter Haigasun stand regungslos auf der höchsten Stufe. Nur die Lippen und das Kreuz auf seiner Brust bewegten sich leicht, während er sprach. Die spitze Kapuze verdunkelte sein Wachsgesicht, aus dessen tiefen Backengruben der schwarze Bart mit den beiden grauen Strähnen drang. Die Augen, die er geschlossen hielt, bildeten zwei rätselhafte Schatten. Er sah aus, als erlebe er in dieser Stunde nicht den Beginn des Unausdenklichen, sondern habe es schon durch- und ausgekostet, und jetzt, ans Ziel gelangt, werde er sich endlich hinlegen dürfen. Obgleich das Armenische wie alle östlichen Sprachen zu Feierlichkeit und Bilderprunk verführt, redete er in knappen, beinahe trockenen Sätzen: Die Absicht der Regierung müsse genau erkannt werden. Unter den älteren Menschen hier gebe es wohl keinen, der nicht die Metzeleien der früheren Zeit verspürt habe, wenn nicht am eigenen Leib, so doch in dem Todesleiden von Anverwandten drüben in Anatolien. Dabei habe Christus mit unverdienter Huld über dem Musa Dagh gewacht. Gesegnete Jahre lang sei Frieden in den Dörfern gewesen, während zu gleicher Zeit die Volksgenossen in Adana und anderswo zu Zehntausenden abgeschlachtet wurden. Man müsse aber genau unterscheiden zwischen Massaker und Austreibung. Ersteres daure vier, fünf, schlimmstens sieben Tage. Der Tapfere finde immer Gelegenheit, sein Leben teuer zu verkaufen. Schlupfwinkel für Frauen und Kinder seien rasch vorbereitet, der Blutdurst des rasenden Militärs verrauche bald, selbst den tierischesten Saptieh ergreife nachher Ekel. Die Regierung habe diese Metzeleien zwar immer selbst veranstaltet, sich aber nie zu ihnen bekannt. Sie entstanden aus der Unordnung und gingen in der Unordnung unter. Die Unordnung sei aber noch der beste Teil dieser Schurkereien gewesen und das ärgste Schicksal der Tod. Nicht so die Austreibung! Hierbei könne sich noch derjenige beglückwünschen, der durch den Tod, auch den grausamsten, von ihr erlöst werde. Die Austreibung gehe nicht vorüber wie ein Erdbeben das immer noch einen Teil der Menschen und Häuser verschont. Die Austreibung werde so lange dauern, bis der Letzte des Volkes durch das Schwert getötet, auf der Landstraße verhungert, in der Wüste verdurstet, von Cholera und Flecktyphus hinweggerafft sei. Diesmal herrsche nicht regellose Willkür und aufgepeitschter Blutrausch, sondern etwas weit Entsetzlicheres – Ordnung. Alles verlaufe nach einem in den Ministerien von Stambul ausgearbeiteten Plan. Er, Ter Haigasun, wisse von diesem Plan seit Monaten, lange noch, bevor das Zeitun-Unglück ausbrach. Er wisse auch, daß alle Anstrengungen des Katholikos, des Patriarchen und der Bischöfe, die Bitten und Drohungen der Botschafter und Konsuln nichts gefruchtet hätten. Das einzige, was er, als armer kleiner Priester, habe tun können, war schweigen, unter Wissensqualen schweigen, damit die letzte gute Lebenszeit seiner armen Pfarrkinder nicht zerstört werde. Diese Zeit sei endgültig zu Ende. Nun müsse man der Wahrheit ohne Selbstbetrug ins Auge sehn. Niemand möge bei der Aussprache mit törichten Vorschlägen kommen, an die Behörden Bittgesandtschaften abzuschicken und dergleichen. Unsinnige Zeitvergeudung wäre das: »Menschliche Gnade gibt es nicht mehr. Christus, der Gekreuzigte, fordert die Nachfolge seines Leidens. Es bleibt für uns gar nichts anderes übrig, als zu sterben ...«
Hier schaltete Ter Haigasun eine kaum merkliche Pause ein, ehe er mit verändertem Ausdruck schloß:
»Es fragt sich nur, wie!«
»Wie sterben?? ...«, schrie Pastor Aram Tomasian und schnellte neben Ter Haigasun vor, »ich weiß, wie ich sterben werde. Nicht wie ein wehrloser Hammel, nicht auf der Landstraße nach Deïr es Zor, nicht im Kot der Deportationslager, nicht am Hunger und nicht an der stinkenden Seuche, nein, auf der Schwelle meines Hauses werde ich sterben, mit der Waffe in der Hand, dazu wird mir Christus helfen, dessen Wort auch ich künde. Und mit mir soll mein Weib sterben und das Ungeborene in ihr! ...«
Dieser Ausbruch hatte Arams Brust fast zersprengt. Er preßte die Hand aufs Zwerchfell, um seinen Atem zu sammeln. Ruhiger geworden, hob er nun an, das Schicksal der Ausgetriebenen zu beschreiben, wie er es selbst, wenn auch nur zum geringsten Teil und in mildester Form, erlebt hatte:
»Was das ist, weiß niemand vorher, niemand kann es ausdenken. Man weiß es erst im letzten Augenblick, wenn der Offizier den Abmarsch befiehlt, wenn die Kirche und die Häuser, nach denen man sich umsieht, kleiner und kleiner werden, bis sie verschwinden ...«
Aram beschrieb den unendlichen Weg, von Etappe zu Etappe, das Wundwerden der Füße, das Aufschwellen des Körpers, das Zusammenbrechen, das Liegenbleiben, das Sichweiterschleppen, das allmähliche Vertieren, das wochenlange Verrecken unter täglichen Knutenhieben. Seine Sätze fielen selbst wie breite Knutenhiebe auf die Menge. Doch sonderbar! Noch immer entrang sich den gefolterten Seelen der Tausende kein Aufschrei, kein Wahnsinnsanfall. Noch immer starrten sie auf das Menschenhäuflein dort oben vor dem Haustor wie auf tragische Possenreißer, die ihnen etwas vormachten, was sie nichts anging. Diese Weinbauern, Obstgärtner, Holzschnitzer, Kammacher, Imker, Raupenzüchter, Seidenweber, die dem Nahenden so lange entgegengewartet hatten, sie konnten es nun, da es gekommen war, mit dem Verstande nicht fassen. Die verfallenen Gesichter zeigten immer angestrengtere Züge. Die Lebenskraft mühte sich ab, die kranke Verpuppung der letzten Zeit zu durchstoßen. Aram Tomasian rief:
»Selig sind die Toten, die alles schon hinter sich haben.«
Hier ging das erstemal ein unbeschreiblicher Wehelaut durch die Menge. Kein Aufheulen, sondern ein langes singendes Stöhnen, ein hinschwellender Seufzer, als seufze nicht der Mensch, sondern die leidende Erde selbst auf. Arams Wort schwang scharf über dem Wehelaut:
»Auch wir wollen den Tod so schnell wie möglich hinter uns haben! Deshalb werden wir unsre Heimstätten verteidigen, damit wir alle, Männer, Frauen, Kinder, einen raschen Tod finden!«
»Warum Tod?«
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