Dieser nickte feierlich:
»Nur für dich, Herr, habe ich die viele Mühe gehabt. In den Kanzleien des Hükümets bin ich gestanden und habe um deinetwillen meine Ohren angestrengt. O Effendi, ich verdiene mir trotz deines armen Papierpfunds einen Lohn in der jenseitigen Welt. Was ist heute ein Papierpfund? Wenn sie es dir im Bazar überhaupt wechseln, so betrügen sie dich. Siehe aber, meinen Nachfolgern wird mehr gehören als hundert Goldpfund und alle Medjidjehs, die in den Dörfern zu finden sind. Dein Haus wird ihnen gehören mit allem, was darin ist. Denn du kannst nichts mitnehmen. Und deine Pferde werden ihnen gehören. Und dein Garten mit all seinen Früchten ...«
Bagradian schnitt diese blumige Aufzählung entzwei:
»Es möge ihnen wohl bekommen!«
Er reckte seine Gestalt hoch. Ali Nassif aber rührte sich wehmütig nicht von seinem Platz:
»Jetzt habe ich dies alles für ein Stück Papier verkauft.«
Um ihn loszuwerden, holte Gabriel all seine Piasterstücke aus der Tasche.
Als Gabriel Bagradian ins Pfarrhaus trat, erkannte er zu seiner großen Verwunderung, daß Ter Haigasun die Katastrophe schon mehrere Stunden vor Ali Nassifs Bericht in Erfahrung gebracht hatte. In dem engen Zimmer waren auch bereits Thomas Kebussjan, die sechs anderen Muchtars, zwei verehelichte Volkspriester aus den Dörfern und Pastor Nokhudian aus Bitias versammelt. Graue und wächserne Gesichter. Der Donnerschlag hatte das Gewölk des krankhaften Halbschlafes, in dem diese Leute seit Wochen herumliefen, nicht zerrissen, sondern nur noch verdichtet. Sie standen rings an die Wände gedrückt und schienen leblos aus der Mauer herauszuwachsen. Nur Ter Haigasun saß. Das zurückgelehnte Gesicht war ganz dunkel. Seine Hände aber, die ruhig vor ihm auf dem Schreibtisch lagen, flammten in einem starren Sonnenstrahl. Wenn einer etwas sagte, so flüsterte er kaum hörbar und bewegte die Lippen nicht. Auch Ter Haigasun murmelte nur, als er sich jetzt an Bagradian wandte:
»Ich habe von diesen Muchtars hier gefordert, daß sie gleich nach ihrer Rückkehr in die Dörfer die Gemeinden zusammenrufen. Noch heute, und zwar so schnell wie möglich, soll alles, was erwachsen ist, von Wakef bis Kebussije, hier in Yoghonoluk zusammenkommen. Wir werden eine große Versammlung abhalten, in der über alle Mittel beschlossen werden soll, die zu ergreifen sind ...«
Pastor Nokhudians zittrige Stimme kam aus einem Winkel:
»Es gibt keine Mittel, die zu ergreifen sind ...«
Der Muchtar von Bitias trat ein wenig in den Raum:
»Ob es einen Zweck hat oder nicht, das Volk muß zusammenkommen, muß Reden hören und selbst reden. Es wird dann alles leichter.«
Ter Haigasun hatte die Unterbrechung mit gerunzelten Brauen über sich ergehen lassen. Dann setzte er Gabriel seinen Willen weiter auseinander:
»In dieser Versammlung sollen die Gemeinden Leute wählen, zu denen sie Vertrauen haben und welche die Führung übernehmen. Die Ordnung ist die einzige Waffe, die uns bleibt. Wenn wir auch draußen Führung und Ordnung behalten, dann werden wir vielleicht nicht sterben ...«
Bei dem Worte »draußen« hob Ter Haigasun die halbgeschlossenen Lider und sah Gabriel forschend an. Thomas Kebussjan wackelte mit dem Glatzkopf:
»Auf dem Kirchplatz kann die Versammlung nicht gehalten werden. In der Kirche auch nicht. Da sind die Saptiehs! Da sind noch andere. Gott weiß, wer sich einschleicht, wer zuhört und uns verrät! Auch ist die Kirche für alle zu klein. Aber wo?«
»Wo? Das ist sehr einfach!« Bagradian nahm zum erstenmal das Wort:
»Mein Garten ist durch eine hohe Umfassungsmauer abgeschlossen. Diese Mauer hat nur drei versperrbare Türen. Platz gibt es für zehntausend Menschen. Wir sind wie in einer starken Festung.«
Dieser Vorschlag Gabriels brachte die Entscheidung. Diejenigen, die aus Verzweiflung oder tatloser Mattigkeit die Vernichtung ohne mühsame Umstände hinnehmen wollten, und diejenigen, die bei allen Dingen Schwierigkeiten machten, konnten nichts mehr einwenden. Was ließen sich schließlich auch für ernste Einwendungen dagegen erheben, daß sich die Menschen des armenischen Tales in der Todesstunde ihres Volkes zusammentaten und Führer wählten, wenn diese auch so hilflos sein mochten wie die Geführten? Der Ort der Zusammenkunft war sicher und man mußte keine Angst vor Strafverschärfungen haben. Vielleicht spielte auch der Aberglaube mit, daß die Familie Bagradian Beziehungen zu den Machthabern unterhalte, die zugunsten der sieben Dörfer wirksam gemacht werden könnten. In abgestorbener Haltung, schleppenden Schrittes verließen die Männer den Raum, nachdem sie versprochen hatten, ihre Gemeinden unverzüglich auf die Beine zu bringen. Da Yoghonoluk ja in der Mitte der Ortschaften lag, würden in der vierten Nachmittagsstunde die letzten Nachzügler im Garten Gabriel Bagradian Effendis eintreffen. Die Muchtars wollten die Wache bei den Gartentoren selbst übernehmen, damit kein fremder Eindringling durchschlüpfe. Ter Haigasun erhob sich. Die Glocken riefen schon. Er mußte sich für den Gottesdienst bereit machen.
Von allen Messen der christlichen Bekenntnisse dauert die armenische am längsten. Die Spanne vom Introitus bis zum letzten Kreuzeszeichen des Priesters mag gut ein und eine halbe Stunde währen. Kein Instrument, nur Schellen und Beckenschläge begleiten die Gesänge des Chors, der an ungeduldigen Sonntagen die Zeitmaße beschleunigt, um den Priester vorwärtszutreiben und das Hochamt abzukürzen. Heute gelang es ihm nicht. In tiefer Versunkenheit verweilte Ter Haigasun bei jedem der heiligen Abschnitte und Akte länger denn je. Wollte er um des Wunders einer unfaßbaren Rettung willen sein Gebet anspannen? Wollte er den Augenblick hinauszögern, da der Blitz in die ahnungslose Gemeinde schlug? Der Augenblick war nur allzufrüh da, als er den letzten Segen erteilt und die Worte gesprochen hatte: »Geht in Frieden und der Herr sei mit euch!« In den Bänken begann schon der Aufbruch zu rauschen. Ter Haigasun aber trat bis an den äußersten Rand der Altarstufen vor, breitete die Arme aus und rief:
»Es ist geschehen, was wir gefürchtet haben!«
Dann fuhr er mit karger ruhiger Stimme fort. Es möge sich niemand unnütz erregen und hinreißen lassen. Die Totenstille, die in diesem Augenblick herrsche, müsse in den nächsten Tagen unverändert anhalten. Jede Kopflosigkeit, alles Durcheinander, alles Weinen und Jammern helfe nicht, sondern verschlimmere die Lage nur. Einigkeit, Festigkeit, Ordnung, mit diesen Mitteln allein lasse sich das Ärgste bekämpfen. Es sei noch Zeit genug, jeden Schritt zu überlegen. Ter Haigasun lud die Gemeinde zur großen Versammlung vor dem Hause Bagradian ein. Kein erwachsener, vollsinniger Mensch, ob Mann oder Weib, dürfe fehlen.
In dieser Versammlung sei es Sache der sieben Gemeinden, nicht nur in ihrer Gesamtheit Beschlüsse über das künftige Verhalten zu fassen, sondern auch Führer zu wählen, die das Volk gegenüber den Behörden bis zum Äußersten vertreten. Diesmal genüge der übliche Vorgang des Handaufhebens bei Gemeindewahlen nicht. Es nehme daher jedermann einen Zettel und Schreibstift mit, damit er seine Stimme in guter Form abgeben könne.
»Jetzt aber gehet ruhig nach Hause«, beschwor der Priester die Menge, »rottet euch nicht zusammen! Machet kein Aufsehen! Vielleicht hat man Spione ausgeschickt, die euch beobachten. Die Saptiehs dürfen nicht merken, daß ihr vorbereitet seid. Vergesset die Zettel nicht und kommt pünktlich! Nur Ruhe!«
Der nochmaligen Mahnung hätte es gar nicht bedurft. Wie ein Volk von Toten oder vom Tode Berührten taumelten die Menschen stumm ins Tageslicht, das sie nicht wiederzuerkennen schienen.
Der Mensch weiß nicht, wer er ist, ehedenn er geprüft wird. Gabriel Bagradians СКАЧАТЬ