Historische Romane: Die vierzig Tage des Musa Dagh, Verdi, Das Lied von Bernadette, Eine blassblaue Frauenschrift und mehr. Franz Werfel
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Читать онлайн книгу Historische Romane: Die vierzig Tage des Musa Dagh, Verdi, Das Lied von Bernadette, Eine blassblaue Frauenschrift und mehr - Franz Werfel страница 55

СКАЧАТЬ verbringend. Längst abgelöst von Volk, Staat, jeglicher Massengemeinschaft, ein geborgener, ein abstrakter Mensch. Äußere Kanten, an die er sich stößt, gibt es nur wenig. Der ältere Bruder – ein unsichtbarer, unfühlbarer Wohltäter – sorgt als Haupt des Hauses für alle Bedürfnisse. Dann kommt, merkwürdig genug, die einzige Unterbrechung dieses nach innen gekehrten, denkenden und empfindenden Daseins. Die Episode der Militärschule und des Krieges. Der patriotische Idealismus, der mit diesem Beschaulichen plötzlich durchgeht, ist nicht leicht verständlich. Die große politische Verbrüderung zwischen der türkischen und armenischen Jugend erklärt ihn nur unzulänglich: Es ist vielleicht noch etwas anderes im Spiel, eine geheime Unruhe, der Versuch, seinem eigenen allzu gebahnten Leben zu entkommen. Während des kurzen Feldzuges aber lernt dieser Gabriel Bagradian Unbekannte Fähigkeiten an sich kennen. Er ist nicht nur, wie er bisher gedacht hat, ein ausschließlich inwendigen Welten zugekehrter Mensch. Den Anforderungen an Tatkraft, Geistesgegenwart, Umsicht, Mut zeigt er sich in einem erstaunlichen Maße gewachsen, weit mehr sogar als seine orientalischen Kameraden. Er rückt schnell vor, er wird mehrfach ausgezeichnet und in den Meldungen an die Heeresleitung erwähnt. In der nachfolgenden Zeit freilich versinkt dies alles, wird zu einer beinahe unlogischen Erinnerung, da seine ursprüngliche Natur wieder zur Macht kommt, beruhigter und viel reifer als früher. Der heutige Tag aber, es ist der vierundzwanzigste Juli, macht alle Jahre dieses Lebens zu einem blassen Vorspiel.

      Am tiefsten betroffen war Samuel Awakian, als er sah, wie sich die seit Wochen zusammengetragenen Schimären eines gelangweilten Nichtstuers zu dem sinnvollen Gebilde eines großen Kriegsplanes ineinanderfügten. Sie saßen in Bagradians Arbeitszimmer, das abgesperrt war. Mochte rufen und klopfen wer wollte, es wurde nicht geöffnet. Die geheimnisvollen Striche, Kreuze, Wellenlinien auf den drei Karten, die der Student als ein verträumtes Geduldspiel belächelt hatte, entpuppten sich nun als ein scharf durchdachtes Verteidigungssystem. Der dicke blaue Strich unterhalb des Nordsattels bedeutete einen langen Schützengraben, der sich an die (braungestrichelten) Steinbarrikaden der Felsseite lehnte. Die dünnere blaue Linie dahinter bezeichnete den Reservegraben, die kleinen Rechtecke seitlich der Gräben Flankensicherungen und vorgeschobene Posten. Auch die Ziffern von zwei bis elf, die den talzugewandten Bergrand des Damlajik füllten, wurden aus leeren Nummern zu wohlerwogenen Abschnitten der Verteidigung. Ebenso bekamen die verschiedenen Aufschriften einen Sinn: Stadtmulde, Schüsselterrasse, Kommandokuppe, Beobachter I, II, III, Südbastion. Was letztere anbelangt, so war sie der größte Glücksfall des Systems. Eine Besatzung von ein paar Dutzend Leuten genügte hier, um einen beliebig starken Gegner in Schach zu halten. Frauen sogar konnten dieses Abwehrwerk leisten. Gabriels Gesicht glühte vor Eifer. Es glich dem Knabengesicht Stephans wie noch nie:

      »Ich habe alle Hoffnung der Welt« – er maß mit Stephans Zirkel Entfernungen nach –, »die türkischen Soldaten kenne ich. Die besten Leute sind an den Fronten. Was sich aber an Landwehr, Saptiehs und Irregulären in den Kasernen von Antiochia herumtreibt, das ist Lumpenpack und nur zu ungefährlichen Verbrechen verwendbar.«

      Die hohe, etwas zurückweichende Stirn Samuel Awakians, der sich plötzlich in fremdartiges Kriegshandwerk versetzt sah, wurde im Gegensatz zu Gabriels Gesichtsfarbe käseblaß:

      »Es kommen bei uns bestenfalls tausend Männer in Betracht. Wie es mit Gewehren und Munition steht, weiß ich nicht. In jedem türkischen Nest liegt Militär, nicht nur in Antakje, sondern überall ...«

      »Wir sind ein Volk von fünfeinhalbtausend Menschen«, fuhr ihm Bagradian in die Rede, »wir haben kein Erbarmen zu erwarten, sondern nur den langsamen Tod. Der Musa Dagh aber läßt sich nicht so leicht einschließen.«

      Awakian glotzte betäubt aus dem Fenster:

      »Werden aber diese fünftausend dasselbe wollen wie Sie, Effendi?«

      »Wenn sie es nicht wollen, so verdienen sie den gemeinen Tod im mesopotamischen Dreck ... Ich aber will gar nicht leben, ich will gar nicht gerettet werden! Ich will kämpfen! Ich will so viele Türken töten, als wir Patronen haben. Und wenn es sein muß, bleib ich allein auf dem Damlajik. Unter den Deserteuren!«

      Es war nicht eigentlich Haß, sondern ein heiliger und zugleich lustiger Zorn, der aus Bagradians Augen flammte. Es schien, als freue er sich, allein gegen die Millionenarmeen Enver Paschas zu stehn. Wie Wahnsinn hob es ihn vom Sitz und trieb ihn durchs Zimmer:

      »Ich will nicht leben, sondern einen Wert haben!«

      Der zusammengesunkene Awakian gab noch immer nicht nach:

      »Gut! Wir werden uns eine Zeitlang verteidigen. Und dann ...?«

      Gabriel brach seine leidenschaftliche Wanderung ab und setzte sich ruhig wieder an seine Arbeit:

      »Und dann werden wir binnen vierundzwanzig Stunden noch unzählige Probleme zu lösen haben. Wo kommt die Fleischbank hin, wo das Munitionsdepot, wo das Lazarett? Was für eine Art von Unterkünften soll errichtet werden? Quellen gibt es genug. Wie aber wird die Wasserversorgung am besten gehandhabt? Hier sind einige Zettel, auf denen ich eine Dienstordnung für die Waffenmannschaft schon entworfen habe. Machen Sie eine Reinschrift davon, Awakian! Wir werden sie brauchen. Ordnen Sie überhaupt all diese Notizen hier. Ich glaube nicht, daß ich viel vergessen habe. Vorläufig ist alles noch Theorie; doch ich bin überzeugt, daß sich der größere Teil verwirklichen läßt. Wir Armenier bilden uns doch immer so viel auf unsere geistige Überlegenheit ein. Damit haben wir sie aufs Blut erbittert. Nun aber wollen wir wirklich beweisen, wie sehr wir überlegen sind!«

      Awakian saß ganz erschüttert da. Mehr noch als das allgemeine Schicksal verwirrten ihn die unwiderstehlichen Kraftströme, die von Gabriel ausgingen. Keine leuchtende, aber eine glühende Substanz war um ihn gebreitet. Je weniger er sprach, je ruhiger er arbeitete, um so dichter wurde sie. Samuel Awakian stand so stark unter dieser Wirkung, daß er seine Aufmerksamkeit nicht sammeln konnte, daß er keine Worte mehr für seine Zweifel fand, daß er Gabriels Kopf immer anstarren mußte, der ungestüm in die Arbeit an der Kriegskarte vertieft war. In seiner Regungslosigkeit überhörte er sogar die Worte Bagradians, so daß dieser seinen Auftrag ungeduldig wiederholte:

      »Gehen Sie jetzt hinunter, Awakian! Sagen Sie, ich komme nicht zu Tisch. Sie sollen mir irgend etwas durch Missak heraufschicken. Ich darf keine Minute verlieren. Und dann, vor der Versammlung will ich keinen Menschen sehen, keinen, verstehen Sie, auch meine Frau nicht!«

      Der Zuzug des Volkes begann schon in den ersten Nachmittagsstunden. Die Muchtars bewachten, wie es verabredet war, die drei Eingänge in der Parkmauer persönlich, um jeden einzelnen Teilnehmer der Versammlung zu begutachten. Diese Vorsichtsmaßregel erwies sich aber als überflüssig, denn Ali Nassif war mit seinem Posten unauffällig, ohne von langjährigen Bekannten Abschied zu nehmen, bereits gegen Antakje aufgebrochen. Auch hatte sich weder die türkische Briefträgerfamilie noch jemand von den muslimischen Anrainern der Dörfer heimlich den nach Yoghonoluk wandernden Scharen angeschlossen. Lange vor der angesetzten Zeit sickerten die letzten Trupps durch das Sieb. Dann wurden die große Einfahrt und die beiden Gartentüren verrammelt. Das Volk drängte sich auf dem großen Freiplatz vor der Villa zusammen. Etwa dreitausend Menschen. Am linken Flügel des Hauses dehnte sich der geräumige Wirtschaftshof, der aber auf Wunsch Ter Haigasuns durch ein paar zusammengeknüpfte Wäscheschnüre abgegrenzt und freigehalten wurde. Auf der gehobenen Rampe des Hauses hatten sich die Notabeln zusammengefunden. Die kleine Treppe, die emporführte, bot eine hinreichende Rednerkanzel. Der Gemeindeschreiber von Yoghonoluk hatte am Fuß dieser Treppe sein Tischchen aufgestellt, um die wichtigsten Beschlüsse aufzuzeichnen. Gabriel Bagradian blieb so lange wie möglich in seinem Zimmer, dessen Fenster ja der Menge abgekehrt waren. Er wollte die innere Fülle, die ihn beherrschte, nicht vorzeitig durch unverbindliches Gerede verzetteln. Er trat erst aus dem Hause, als schon Ter Haigasun nach ihm gesandt hatte. Fahle, niedergebrannte Gesichter vor ihm, nicht dreitausend, sondern ein einziges. Das hoffnungslose Gesicht der Austreibung, hier wie an hundert anderen Orten zu dieser Stunde. Die СКАЧАТЬ