Früher, als Gabriel angenommen, wurde der schöne Platz erreicht. Hier hatten unter Awakians Aufsicht Kristaphor, der Diener Missak und ein Stallbursche gute Arbeit geleistet. Die Zelte standen bereits, fest in der Erde verankert. Über dem des Scheichs oder des Großvaters Awetis wehte sogar eine Fahne, auf der das altarmenische Wappen gestickt war, mit dem Ararat, der Arche und der aufschwebenden Taube im Mittelfeld.
Dieses Zelt war auch wirklich ein Prachtgehäuse aus einer stolzen und glanzvollen Zeit. Acht Schritte maß es in der Länge, sieben in der Breite. Sein Gerüst bestand aus armdicken Stangen von edlem Holz, die Innenwände aus schönen Teppichen. Einen großen Fehler hatte es allerdings. Im Zeltraum verbreitete sich ein scharfer Geruch von Kampfer und Alter. Die Wände waren zusammengerollt und in großen Säcken eingenäht gewesen, die Verwalter Kristaphor von Zeit zu Zeit unter Hügeln von Kampfer und Insektenpulver begrub. Die beiden modernen Expeditionszelte, die Awetis der Jüngere, vor einigen Jahren aus London nach Yoghonoluk gebracht hatte, fanden weit mehr Bewunderung, obgleich sie nur aus dem üblichen Zeltstoff verfertigt waren. Dafür aber enthielten sie alles, was sich der Scharfsinn eines erfahrenen Jägers und Weltmannes nur ausdenken kann. Awetis hatte ja auch, ehe ihn die fortschwelende Krankheit jäh niederwarf, eine Fahrt in fast noch unbetretenes Gebirgs- und Steppenland geplant, und zwar in Begleitung zweier englischer Freunde. In diesen Zelten war nichts vergessen. Zusammenklappbare Feldbetten, auf denen man durchaus nicht hart lag. Seidene Schlafsäcke, federleichte Tische und Stühle, die sich ineinanderschieben ließen. Kochgeschirr, Teegeschirr, Schüsseln und Teller, alles aus Aluminium. Waschbehälter und Badetubs von Gummi, und nicht zu vergessen die windsicheren Lampen für Petroleum- und Spirituslicht.
Man ging daran, die Wohnstätten zu verteilen. Juliette lehnte das Scheichzelt ab und bezog mit Iskuhi eine der modernen Unterkünfte. Krikor und Gonzague bekamen das andere Expeditionszelt. Lehrer Oskanian erklärte aus dunklen Gründen und mit einem strengen Blick auf Juliette, er ziehe es vor, abseits der menschlichen Gemeinschaft die einsame Nacht mit sich selbst zu verbringen. Er warf bei dieser Erklärung den kraushaarigen Kopf ein wenig zurück, als erwarte er, daß einerseits ein allgemeiner Lobausbruch seinen mutig-stolzen Entschluß belohnen und andererseits eine gewogene Frauenstimme den Versuch machen werde, ihn umzustimmen. Juliette dachte jedoch weder an die Tiere des Waldes noch an die Deserteure, denen Oskanian sich auszusetzen gesonnen war. Und auch sonst wollte ihm niemand die einsame Zwiesprache mit seiner Seele streitig machen. Da wandte er sich mit höhnischer Hoheit ab und versank für den Rest des Abends in sein überlegenes Brüten, ohne den Entschluß, der so wenig verstanden worden war, zurücknehmen zu können. Gabriel, Stephan, Awakian und Schatakhian aber schlugen in dem Prachtquartier, von dem der Wimpel wehte, ihr Nachtlager auf.
Bagradian nannte diesen Abend bei sich selbst die Generalprobe. Er verlief jedoch ohne jedes Ereignis, das diesen Namen gerechtfertigt hätte, wie hundert andere Veranstaltungen ähnlicher Art. Gar nichts Romantisches ereignete sich, es sei denn, daß der Koch Howhannes das Mahl auf einem offenen, großen Feuer bereitete. Übrigens hatte Missak, der verwegene Bursche, sich vor einigen Tagen nach Antiochia gewagt und dort bei einem befreundeten Militärlieferanten eine ganze Maultierladung englischer Konserven erstanden, die man heute ausprobierte. Während des Essens stand Stephan mehrmals auf, um der hungernden Sato, die sich jenseits des Feuerscheins versteckt hielt, einen Teil seiner Mahlzeit, in einem Brot vergraben, mitzubringen. Man saß, wie es sich gehörte, neben dem Feuer auf Decken. Missak hatte über eine glatte Stelle ein Tischtuch gebreitet, auf dem die Schüsseln standen. Der Abend war wohlig frisch. Der Mond ging seinem dritten Viertel entgegen. Das Feuer flackerte schwächer. Man trank Wein und den starken Maulbeerschnaps, den die Bauern der Dörfer brannten. Dennoch wollte kein Behagen und keine trauliche Lust an diesem Abenteuer aufkommen. Juliette machte dem Zusammensein sehr früh ein Ende. Sie fühlte sich so eigentümlich beklommen. Nun erst verstand sie Iskuhis Widerstreben. Überall umlauerte sie die wilde, unbewohnte Erde mit ihrem furchtbaren Ernst. Vielleicht war's wirklich von Gabriel ein lästerliches Spiel. Sie und Iskuhi zogen sich ins Zelt zurück. Auch die andern sagten einander gute Nacht. Oskanian schritt erhobenen Hauptes von dannen, um in der nächsten Nähe des Dienerlagers seine Wichtigtuerei durch eine verfrorene Nacht zu büßen. Gabriel teilte noch den Wachdienst ein. Zwei Mann hatten gemeinsam jeweils drei Stunden lang den Schutz der Zelte zu übernehmen. Bagradian übergab ihnen Gewehre und scharfe Patronen. Kristaphor und Missak waren Jagdbegleiter des Verstorbenen gewesen und verstanden es gut, mit Waffen umzugehn. Zuletzt legte sich Gabriel hin. Aber ebensowenig wie Iskuhi vermochte er zu schlafen. Das Mädchen lag starr und rührte kein Glied, um Juliette nicht zu wecken. Gabriel hingegen warf sich hin und her, stundenlang. Der Kampfer- und Modergeruch des Zeltes erstickte ihn. Endlich kleidete er sich wieder an und trat hinaus. Es war vielleicht eine halbe Stunde vor Mitternacht. Die Wächter, Missak und den Koch, schickte er schlafen. Dann ging er als einziger Beschützer des Dreizeltplatzes langsam auf und ab. Manchmal knipste er seine Taschenlampe an, aber sie erhellte nur einen winzigen Kreis. Diese Nacht hatte gar nichts Gefährliches an sich. Nicht einer von den wilden Hunden, die unten das nächtliche Tal unsicher machten, war mit seinen glühenden Lichtern der Gesellschaft gefolgt. Auch sonst kein unheimlicher Laut. Fledermäuse durchzuckten die Finsternis. Wenn eine Wolke den meerwärts verschwindenden Mond freigab, begann eine Nachtigall zu singen, so quellend und energisch in der Totenstille, daß Bagradian erschüttert war. Er versuchte darüber nachzudenken, wie es kam, daß seine innersten Gedanken schon so klare Gestalt angenommen hatten. Als drei Zelte zeichneten sie sich gegen den Nachthimmel. Wie war das? Er konnte jetzt nicht denken. Seine Seele war viel zu voll. Als Gabriel sich eine neue Zigarette anzündete, stand unweit von ihm ein Gespenst, das sich ebenfalls eine Zigarette anzündete. Das Gespenst trug die Lammfellmütze türkischer Soldaten und stützte sich auf ein Infanteriegewehr. Das Gesicht konnte er nicht sehn, aber es mußte ein ganz abgemagertes Gesicht sein, das in der Zigarettenglut schwach aufleuchtete. Gabriel rief das Gespenst an. Auch beim zweiten und dritten Anruf rührte es sich nicht. Gabriel zog die Armeepistole, die er mitgenommen hatte, und spannte hörbar den Verschluß. Es war nur eine leere Förmlichkeit, denn er spürte genau, der Schatten werde nichts gegen ihn unternehmen. Dieser blieb noch eine Weile unbewegt, dann gluckste ein sonderbar langsames und blasiertes Lachen herüber, die Zigarette verschwand und mit ihr der Mann. Gabriel schüttelte Kristaphor aus dem Schlaf:
»Es sind irgendwelche Leute hier. Ich glaube Deserteure.«
Der Verwalter zeigte sich weiter nicht erstaunt:
»Nun ja, es werden Deserteure sein. Die armen Burschen tun sich nicht leicht.«
»Ich habe nur einen gesehen.«
»War's vielleicht der Sarkis Kilikian?«
»Wer ist Sarkis Kilikian?«
»Asdwaz im! Barmherziger Gott!« Kristaphor machte eine matte Handbewegung, als lasse es sich gar nicht ausdrücken, wer Sarkis Kilikian sei. Bagradian aber befahl seinen Leuten, die jetzt alle erwacht waren:
»Geht und sucht diesen Kilikian! Bringt ihm etwas zum Essen. Der Mensch hat Hunger.«
Kristaphor und Missak machten sich mit ein paar Konservenbüchsen und einer Laterne auf den Weg, kamen aber nach einer Weile unverrichteterdinge СКАЧАТЬ