Название: Hans Fallada – Gesammelte Werke
Автор: Hans Fallada
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Gesammelte Werke bei Null Papier
isbn: 9783962813598
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Drei Tage nach seiner Entlassung bekam Ulrich Heffke schon wieder eine Ladung als Zeuge zu der Hauptverhandlung. Sein schwacher Kopf konnte es so recht nicht mehr fassen, dass er nur als Zeuge geladen war. Seine Aufregung steigerte sich von Stunde zu Stunde, er aß fast nichts mehr und sang immer länger. Die Angst, die eben erst überstandenen Quälereien sollten schon wieder losgehen, quälte ihn unendlich.
In der Nacht vor der Hauptverhandlung hängte er sich zum zweiten Male auf, diesmal rettete ihm sein dunkles Weib das Leben. Sobald er wieder atmen konnte, prügelte sie ihn gründlich durch. Sie missbilligte seine Lebensweise. Am nächsten Tage nahm sie ihn fest unter den Arm und lieferte ihn an der Tür des Zeugenzimmers dem Gerichtsdiener mit den Worten ab: »Der hat einen Vogel! Auf den müssen Sie gut aufpassen!«
Da das Zeugenzimmer schon gut besetzt war, als diese Worte fielen – es waren in der Hauptsache Arbeitskameraden von Quangel geladen, die Fabrikleitung, die beiden Frauen und der Postsekretär, die ihn beim Ablegen der Karten beobachtet hatten, die zwei Damen aus dem Vorstand der Frauenschaft und so weiter –, da also schon eine ganze Reihe von Zeugen anwesend war, als Anna Heffke diese Worte sagte, so passte nicht nur der Gerichtsdiener, sondern die ganze Zeugenschaft eifrig auf den kleinen Mann auf. Manche versuchten, sich die langweilige Wartezeit mit Neckereien des Buckels zu verkürzen, aber es wurde nicht viel damit: dem Manne sah zu sehr die Angst aus den Augen. Die Leute waren doch zu gutmütig, ihm viel zuzusetzen.
Die Vernehmung durch den Präsidenten Feisler hatte der Buckel trotz seiner Angst gut überstanden, einfach, weil er so leise sprach und so sehr zitterte, dass es dem höchsten Richter in Bälde langweilig wurde, sich diesen Angsthasen länger vorzunehmen. Dann hatte der Buckel sich unter die anderen Zeugen geduckt, in der Hoffnung, alles sei nun für ihn abgetan.
Aber dann hatte er mit ansehen müssen, wie der Ankläger Pinscher sich seine Schwester vornahm, wie er sie quälte, er hörte die schamlosen Fragen, die Anna gestellt wurden. Sein Herz empörte sich, er wollte vortreten, er wollte für die heißgeliebte Schwester reden, er wollte bezeugen, dass sie immer ein anständiges Leben geführt hatte – und seine Furcht ließ ihn wieder sich niederducken, sich verkriechen, feige sein.
So verfolgte er, zwischen Angst und Feigheit und Mutanwandlungen nicht mehr Herr seiner Sinne, den Fortgang der Verhandlung, bis er zu jenem Moment kam, da Anna Quangel den BDM, die SA und die SS beschimpfte. Er erlebte den Tumult, der folgte, er machte selbst für seine eigene kleine, lächerliche Figur ein bisschen Tumult mit, indem er auf die Bank kletterte, um besser sehen zu können. Er sah, wie zwei Schupos Anna aus dem Saal schleppten.
Er stand noch immer auf der Bank, als der Präsident endlich Ruhe zu schaffen begann im Saal. Seine Nachbarn hatten ihn vergessen, sie steckten noch die Köpfe zusammen.
Da fiel der Blick des Anklägers Pinscher auf Ulrich Heffke, er betrachtete verwundert die erbarmungswürdige Gestalt und rief: »He, Sie da …! Sie sind doch der Bruder der Angeklagten! Wie heißen Sie doch?«
»Heffke, Ulrich Heffke«, half dem Ankläger sein Assessor aus.
»Zeuge Ulrich Heffke, das war Ihre Schwester! Ich fordere Sie auf, sich zu dem Vorleben der Anna Quangel zu äußern! Was wissen Sie von diesem Vorleben?«
Und Ulrich Heffke tat den Mund auf – er stand noch immer auf seiner Bank, und seine Augen blickten zum ersten Male ohne Scheu. Er tat den Mund auf, und mit einer angenehmen Falsettstimme sang er:
»Valet will ich dir geben, du arge, falsche Welt!
Dein sündlich böses Streben durchaus mir nicht gefällt.
Im Himmel ist gut wohnen: hinauf steht mein Begier.
Da wird Gott herrlich lohnen dem, der ihm dient allhier!«
Alle waren derart verblüfft, dass sie ihn ruhig singen ließen. Einige empfanden sogar diesen schlichten Gesang angenehm und wiegten, der Melodie folgend, dumm die Köpfe hin und her. Der eine Beisitzer hatte schon wieder den Mund weit offen. Die Studenten hielten mit den Händen die Schranke fest umklammert, mit einem gespannten Zug im Gesicht. Der versorgte graue Anwalt pulte sich bei schiefgelegtem Kopf gedankenvoll in der Nase. Otto Quangel hatte sein scharfes Gesicht auf den Schwager gerichtet und fühlte zum ersten Male sein kaltes Herz für den armen kleinen Kerl klopfen. Was würden sie mit ihm tun?
»Verbirg mein Seel aus Gnaden in deiner offnen Seit,
Rück sie aus allem Schaden in deine Herrlichkeit.
Der ist wohl hin gewesen, der kommt ins Himmelsschloss;
Der ist ewig genesen, der bleibt in deinem Schoß.«
Während des Absingens der zweiten Strophe war es im Saale schon wieder unruhig geworden. Der Präsident hatte geflüstert, der Ankläger hatte einen Zettel zu dem wachhabenden Polizeioffizier geschickt.
Aber der kleine Buckel hatte auf nichts von alledem geachtet. Sein Blick war zur Decke des Saales gerichtet. Nun rief er laut, mit einer ekstatisch verzückten Stimme: »Ich komme!«
Er hob die Arme, er stieß sich mit den Füßen von der Bank ab, er wollte fliegen …
Dann fiel er unbeholfen zwischen die vor ihm sitzenden Zeugen, die erschrocken zur Seite sprangen, rollte zwischen die Bänke …
»Schaffen Sie den Mann raus!«, rief der Präsident gebieterisch in den schon wieder tumultuarisch erregten Saal. »Er soll ärztlich untersucht werden!«
Ulrich Heffke wurde aus dem Saal gebracht.
»Wie man sieht: eine Familie von Verbrechern und Wahnsinnigen«, stellte der Präsident fest. СКАЧАТЬ