Название: Ausgewählte Werke von Heinrich Zschokke
Автор: Heinrich Zschokke
Издательство: Bookwire
Жанр: Документальная литература
isbn: 9788027214945
isbn:
Sorg' und Not.
Sie hatte nicht die geringste Lust zu sterben. Daher ließ sie sich den Wetteifer der vier Fakultäten um die Universalerbschaft gar wohl gefallen. Sie gewann dabei am meisten; Leckerbissen von der Philosophie, Trostgründe wider ein sieches Leben von der Theologie, Schutz und Schirm von der Rechtsgelahrtheit, und mäßige Apothekerrechnungen von der medizinischen Fakultät. Doktor Falk war ihr so lieb wie jeder andere, aber auch nicht um ein Haar lieber, wie ein anderer. Nur wenn einmal der Tod im Vorbeigehen an die Tür ihrer Zelle pochte, ward ihr das Doktorchen der allerliebste ihrer Neffen.
«Geschwind, Herr Doktor! Kommen Sie, Jungfer Sarah ist sterbenskrank!» rief eines Morgens die alte Magd der Tante zur Tür herein; «Sie sieht schon seit einigen Tagen erbärmlich aus.»
Falk saß, als diese Nachricht kam, eben auf dem strohernen Sofa, und hatte das weinende Suschen tröstend im Arm. – Falk wußte wohl, es sei mit dem Sterben der Jungfrau Sarah Waldhorn selten buchstäblich gemeint. Er versprach der Magd, schnell zu kommen, blieb aber bei seinem Weibchen sitzen, um es zu trösten.
Der Trost schlug aber nicht an, denn das gute Suschen weinte immer bitterlicher, und der arme Doktor wußte nicht, warum?
«Sei doch deinem Manne offenherzig, liebes Kind,» sagte er: «du quälst und tötest mich mit deinem Weinen und Schweigen.»
«Nun, So höre mich!» sagte sie: «Ach!»
«Gut, Suschen, das hab ich gehört. Wie weiter?»
«Wir haben vier Kinder.»
«Die hoffentlich zu den Schönsten in der Stadt gehören. Alle sind so fromm, zärtlich, folgsam . . .»
«Ach, wahre Engel sind's, o lieber Mann.»
«Da hast du recht. Wahre Engel. Aber du grämst dich doch nicht über diese Engelschaft, hoff ich?»
«Nein, lieber Mann; aber, wie wird's in der Zukunft werden?»
«O du ungläubiges Suschen! Wer nur den lieben Gott läßt walten.»
«Ach, es wird uns schwer, sie anständig zu erziehen. Je älter sie werden, je mehr braucht's.»
«Sie sind doch schon älter geworden, und hat's da schon gefehlt?»
«Aber, lieber Mann, wenn nun . . .»
«Was denn?»
«Ach!» seufzte sie und schluchzte heftiger.
«Was denn?» rief der Doktor mit wahrer Seelenangst.
Sie verbarg ihr Gesicht an seiner Brust, und umklammerte ihn mit beiden Armen fester. Dann sagte sie leiser: «Ich soll nun zum fünften Male Mutter werden.»
Dem Papa ward's bei dieser unverhofften Nachricht zwar auch etwas weinerlich, doch verbarg er seine Bestürzung so gut es ging. «Herzenskind! Ist's nicht mehr, wie das?» rief er: «Gut Suschen, so kömmt der fünfte Engel zu den vier andern, die schon da sind. Es kann garnicht fehlen, wir müssen selig werden.»
«Aber, lieber Mann, wir sind aber so arm.»
«Die Engel werden und müssen uns Segen bringen. Der Alte der Tage, der die jungen Raben füttert, wird mich auch noch Brosamen für unsere Kleinen finden lassen. Beruhige dich.»
Suschen hatte sich satt geweint, darum ward sie von selbst ruhiger. Aber der Doktor konnte nicht weinen, darum blieb er in der Unruhe. Er ging in der Stube auf und ab und sah zum Fenster hinaus; nichts konnte ihn zerstreuen. «Alle Jahre mehr Kinder und weniger Brot. Alle Jahre größere Tischgänger und kleinere Bissen!» seufzte er innerlich. Er würde die sterbende Jungfrau Sarah Waldhorn über die Geschichte vergessen haben, wenn ihn nicht Suschen erinnert hätte, zu ihrem Sterbebette zu laufen.
Das blaue Wunder.
Er nahm den Hut, doch lief er eben nicht. Das häusliche Gespräch drückte ihn noch. Er dachte nur an seine wenigen Kunden, an seine dürftigen Finanzen. Er drückte den Hut tief ins Gesicht, sah starr vor sich hin, wie ein Versemacher; grüßte nicht links nicht rechts auf den Straßen, und hätte beinahe den Generalsuperintendenten über den Haufen gerannt, der doch eins der helleuchtendsten Kirchenlichter war.
Als er zur vielgeliebten Tante kam, fand er sie zwar nicht auf dem Sterbebette, aber doch mit der Brille auf der Nase vor einem großen Andachtsbuch, worin sie Todesbetrachtungen und Gebete für Sterbende in letzten Nöten aufgeschlagen hatte. Sie sah in der Tat übel aus, obgleich man auch von ihrem Gesicht nicht behaupten konnte, es hätte jemals sehr gut ausgesehen. Um die Stirn hatte sie ein Tuch, und wieder ein Tuch unters Kinn über den Kopf zusammengebunden.
«Wo fehlt's?» fragte Doktor Falk und legte Hut und Stock weg.
«Der Herr weiß es,» seufzte sie mit leiser Stimme kläglich, «ich leide viel, schon seit einigen Tagen leid ich. Es ist nicht anders, als wenn mein Stündlein vorhanden wäre. Und es wäre doch schrecklich.» Der Doktor faßte gedankenlos ihren Puls und sagte, ohne zu wissen, was, vor sich hin: «Er geht etwas voll.» Im Geist war der gute Mann noch immer bei Suschen zu Hause.
«Das dachte ich wohl!» seufzte hochbeängstigt die Jungfrau. «Finden Sie mich gefährlich, lieber Falk?»
«In Ihren Jahren nicht mehr!» sagte der Doktor aus langer Weile.
«Nun, das wäre doch etwas Trost!» versetzte sie freundlicher: «In der Tat, ich bin in meinen besten Jahren; meine Kräfte unverdorben. Meine Natur muß mich selber herausreißen. Meinen Sie nicht, lieber Falk? Wenn's nicht Not ist, nur keine teure Arzneien. Seit China, Rhabarber und Mixturen Kolonialwaren geworden sind, ist nicht auszukommen. Daß sich der Herr erbarme! Aber, lieber Falk, mir ist doch nicht wohl.»
Die Tante ließ ihrer Zunge nun den Lauf, sprach von hunderttausend Dingen, die weder zum Übel- noch Wohlsein gehören, alles nach ihrer lieben Gewohnheit. Der Doktor aber trommelte sinnend auf dem Tische und hörte gar nicht zu; ebenfalls nach seiner lieben Gewohnheit. Endlich ward ihm die Zeit zu lang.
«Aber was fehlt Ihnen?» rief er.
«Ach, der Appetit! Ich habe seit zwei Tagen keinen Löffel Suppe mögen; habe Kopfweh zum Sterben.»
«Vielleicht den Magen verdorben, Tante, mit irgend einer philosophischen Gänsleberpastete?»
«Ei, du gerechter Himmel! Falk, kein Gedanke davon! – Das kömmt unmöglich vom Magen. Ich lebe so einfach, so mäßig. In allem Ernst, ich wüßte nicht, daß ich seit vielen Wochen etwas Schwerverdauliches genossen hätte. – Auch hab ich zuweilen Zahnweh; – zuweilen Übelkeiten, Herzweh, Erbrechen – – gerechter Himmel, sehen Sie mich doch nur an, Falk, und trommeln Sie nicht beständig den Zapfenstreich, da werden Sie sehen, wie blaß ich bin, wie eingefallen meine Augen. Mir ist gewiß nicht wohl!»
«Meinetwegen,» СКАЧАТЬ