Ausgewählte Werke von Heinrich Zschokke. Heinrich Zschokke
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Название: Ausgewählte Werke von Heinrich Zschokke

Автор: Heinrich Zschokke

Издательство: Bookwire

Жанр: Документальная литература

Серия:

isbn: 9788027214945

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      Ich hatte meine Studien beendet und empfing den Grad eines Doktors der Rechte und die Erlaubnis, vor den Tribunalen des Königreichs als Anwalt aufzutreten. Meine verdoppelten Arbeiten in dieser Zeit machten meine Besuche bei Madame Bertollon seltener. Aber desto fröhlicher empfing sie mich dann jedesmal; desto lebhafter empfand ich, wie teuer sie mir war. Wir sagten es uns nicht, wie sehr wir uns einander notwendig geworden, aber jedes verriet es dem andern in Miene und Herzlichkeit des Wesens.

      Zuweilen schien es mir, als wäre sie trauriger als sonst, und dann wieder liebreicher und hingebender. Zuweilen schien sie mich mit auffallender Kälte und Zurückhaltung zu behandeln, und dann wieder mich mit zarter Schwesterlichkeit über meine Besorgnisse beruhigen zu wollen. Diese Ungleichheit des Betragens war mir befremdend; vergebens bemühte ich mich, die Ursache davon zu erforschen. Indessen blieb es mir nicht verborgen, daß sie nicht mehr wie sonst die immer Heitere und Gleichmütige war. Ich fand sie oft mit rotgeweinten Augen. Sie sprach zuweilen mit einer sonderbaren Schwärmerei über das Glück der klösterlichen Abgeschiedenheit. Dabei entzog sie sich ihren gewöhnlichen Gesellschaften mehr und mehr. Eine verhehlte Schwermut nagte an der Blüte ihres jungen Lebens.

      Diese Beobachtungen machten auch mich traurig. Ich bemühte mich oft vergebens, sie aufzuheitern. Die Wehmut ihres Blickes, das erlöschende Rot ihrer Wangen, ihr tiefes Schweigen, und ihr Bestreben, mir unter erkünstelter Munterkeit den Gram zu verheimlichen, an dem ihr Herz krankte, mischten in meine Freundschaft die milde Wärme und Zärtlichkeit des Mitleidens. Wie gern hätt' ich mein Leben darum gegeben, ihr frohere Tage zu erkaufen!

      Einst hemmte in einer Abendstunde, da sie zu meinem Harfenspiel sang, ein plötzlicher Thränenstrom ihre Stimme. Ich stellte erschrocken die Harfe weg. Sie stand auf und wollte in ihr Kabinett flüchten, um mir ihren Schmerz zu verbergen.

      Wie rührend sind Jugend, Schönheit und Unschuld im Augenblick des stillen Leidens!

      Ich ergriff ihre Hand und hielt sie zurück.

      »Nein,« rief sie, »lassen Sie mich!«

      »Aber so kann ich Sie unmöglich verlassen! Bleiben Sie! Darf ich Ihren Kummer nicht teilen? Bin ich nicht Ihr Freund? Nennen Sie mich nicht selbst so? Und giebt dieser schöne Name mir nicht ein Recht, nach Ihrer Betrübnis zu fragen, die Sie mir umsonst verheimlichen wollen?«

      »Lassen Sie mich! Ich beschwöre Sie, lassen Sie mich!« rief sie, und wollte sich mit matten Kräften von mir loswinden.

      »Nein! Sie sind unglücklich« . . . sagte ich.

      »Ja, unglücklich!« seufzte sie mit unverhaltenem Schmerz, und ihr schönes Gesicht sank an meine Brust, um die Thränen zu verbergen.

      Unwillkürlich schlang ich meine Arme um die zarte Dulderin. Ein wehmütiges Mitgefühl überwältigte auch mich. Ich stammelte ihr Worte des Trostes zu, und bat sie, sich zu beruhigen.

      »Ach, ich bin unglücklich!« rief sie mit Heftigkeit und schluchzend.

      Ich wagte es nicht weiter, mit unzeitigem Zureden den Sturm ihrer Empfindungen zu beschwichtigen. Ich ließ sie ausweinen, und führte sie zu den Sesseln zurück, da ich fühlte, daß sie schwächer ward und zitterte. Ihr Haupt blieb an meiner Brust. »Ihnen ist nicht wohl?« frug ich schüchtern.

      »Es wird mir wohler!« antwortete sie. Nach einer Weile ward sie ruhiger. Sie sah auf, und sah meine Augen naß. »Warum weinen Sie, Alamontade?« lispelte sie.

      »Kann ich bei Ihrem Schmerze ungerührt bleiben?« antwortete ich, indem ich mich zu ihr niederbog. Schweigend, Hand in Hand und Aug' in Auge, saßen wir da, von unsern Gefühlen überwältigt. Eine Thräne floß über ihre Wangen. Ich bog mich leise gegen sie, küßte die Thräne hinweg und zog die Leidende enger an mein Herz, ohne zu wissen, was ich that. Meine Lippen glühten an den ihrigen, und ich fühlte meinen Kuß sanft erwidert. Unsere Umarmung löste sich nicht; meine Thränen trockneten an der Glut der Wangen. In unsern Küssen loderte ein betäubendes Feuer, und was wir Freundschaft genannt, ging verwandelt in Liebe über.

      Wir schieden. Zehnmal schieden wir, und ebenso oft sank ich wieder an ihren Hals und vergaß der Trennung. Taumelnd, wie ein Berauschter, kam ich in mein Zimmer. Harfe, Kranz und Fenster erschreckten mich.

      10.

       Inhaltsverzeichnis

      In einer tiefern Verwirrung war ich nie gewesen, als am folgenden Morgen. Ich war mir selbst unbegreiflich und schwankte zwischen Widersprüchen. Madame Bertollon schien mich zu lieben; heldenmütig hatte sie bisher wider eine Leidenschaft gestritten, welche den Adel ihrer Seele befleckte. Ich Elender war's, der, ohne sie zu lieben, auf die Seite ihrer Leidenschaft treten und eine unselige Flamme anfachen konnte, von der sie verzehrt, und ich, mehr als die Unglückliche, entehrt werden mußte.

      Vergebens rief ich mir die Heiligkeit meiner Pflichten zurück; vergebens hielt ich mir den schändlichen Undank vor, welchen ich gegen Bertollons großmütige Freundschaft beging, vergebens gedachte ich Klementinens und meiner stillen Gelübde: Alles, was mir sonst reizend und ehrwürdig gewesen, hatte Macht und Einfluß verloren. Der Rausch meiner Sinne datierte unaufhörlich fort; vor meiner Einbildungskraft schwebte nur Bertollons liebenswürdige Gattin; ich fühlte noch auf meiner Lippe die Glut ihres Gegenkusses, und meine geschmeichelte Eitelkeit vernichtete mit trüglichen Schlüssen und Folgerungen die ernste Warnung des Gewissens. Und indem mir die heilige Vernunft ihr Gebot in die Feder diktierte, und ich der Tugend das erste schwere Opfer darbringen wollte, schrieb ich an Madame Bertollon die feierlichsten Schwüre meiner Liebe; log ich ihr vor, wie mich geheime Leidenschaft verzehre, und ich nur in ihrer Liebe meinen Himmel erblicke. Ich bat, ich beschwor sie, mich nicht sinken zu lassen, und rollte vor ihrer Phantasie ein begeisterndes Gemälde unserer Seligkeit aus.

      Ich sprang auf. Ich las und las – zerriß den Brief, schrieb einen zweiten, schrieb alles vorige wieder, und las und zerriß es wieder. Wie eine unbekannte Gewalt schleppte es mich wider meinen Willen zum Verbrechen hin, vor dem meine Seele schauderte. Indem ich schwor, mit halblauter Stimme schwor, noch heute nach Nismes aufzubrechen, und nie die Mauern von Montpellier wieder zu sehen, schwor ich leise bei mir, das hold-unglückliche Weib nie zu verlassen, sondern an ihr zu hangen, und sollte ich aus ihren Küssen meinen unvermeidlichen Tod saugen.

      Es war, als rängen zwei verschiedene Seelen in mir mit gleicher Kraft und Gewandtheit. Die Überlegung schwand; das Gefühl der Pflicht erstarb im Gefühl der alles verzehrenden Neigung. Ich beschloß, zu Madame Bertollon hinzueilen. Vielleicht daß auch sie sich wegen ihrer bewiesenen Schwäche mit Vorwürfen quälte; vielleicht daß auch sie mich und Montpellier zu fliehen willens sein konnte. Ich wollte sie zurückhalten. Ich wollte ihre Besorgnisse zerstreuen und ihr das Erlaubte unserer Liebe vorstellen.

      Ich sprang auf und zur Thür hin. »Also doch freveln?« rief's wieder in mir. »Also doch nun den lange bewahrten innern Ruhm der Unschuld einbüßen?« Ich wankte und trat zurück.

      »Sei rein wie Gott und bleib' es! Dieser Tag und dieser Sturm gehe vorüber, dann bist du gerettet!« sprach ich zu mir selbst. Dies religiöse Gefühl erhob mich. Der Gedanke: Sei rein wie Gott! drang durch das Gewühl meiner wilden Empfindungen immer hindurch, und hielt mich wenigstens für diesmal ab, sogleich zu Madame Bertollon zu eilen.

      Da öffnete sich die Thür meines Zimmers. Herr Bertollon trat herein.

      »Was machst Du, lieber Colas? Dir ist nicht wohl?« sagte er. Erst jetzt nahm ich wahr, daß ich mich aufs Bett geworfen СКАЧАТЬ