Название: Zivilprozessrecht
Автор: Irmgard Gleußner
Издательство: Bookwire
Серия: JURIQ Erfolgstraining
isbn: 9783811475212
isbn:
Ausgangsfall
Mona stützt ihren Anspruch auf Erstattung der Sachverständigenkosten auf §§ 437 Nr. 3, 280 Abs. 1 BGB. Das Gericht kann genauso gut § 439 Abs. 1 oder 2 BGB (vgl. BGH NJW 2014, 2351) heranziehen, ohne an die Auffassung von Mona gebunden zu sein. Allerdings darf es die Parteien mit seiner Rechtsauffassung nicht völlig „überraschen“; das Gericht muss vielmehr rechtzeitig auch die rechtlichen Gesichtspunkte, die eine Partei erkennbar übersehen hat und auf die sich das Gericht stützen will, mit den Parteien erörtern (§ 139 Abs. 2 ZPO). Die Hinweise sind frühzeitig vor der mündlichen Verhandlung zu geben (§ 139 Abs. 4 ZPO); andernfalls muss vertagt werden oder es ist Schriftsatznachlass (§ 139 Abs. 5 ZPO) zu gewähren.[15]
Auch die Beweiswürdigung (§§ 286, 287 ZPO) obliegt ausschließlich dem Gericht. Ob ein Zeuge (z.B. der Freund von Mona) glaubwürdig ist oder ob der Augenschein zu der Bejahung eines erheblichen Sachmangels führt, ist Sache des Gerichts.
4. Modifikationen
a) Wahrheitspflicht der Parteien
48
Der Verhandlungsgrundsatz wird durch die Wahrheitspflicht eingeschränkt. Die Parteien können zwar entscheiden, ob und welche Tatsachen sie vortragen, sie dürfen aber keine unwahren Tatsachen behaupten (= Lügen). Die Pflicht zur Wahrheit ist in § 138 Abs. 1 ZPO geregelt. Auch sog. Halbwahrheiten (= Weglassen von wesentlichen Umständen) verstoßen gegen die Wahrheitspflicht. Behauptungen ins Blaue hinein sind nur in engen Grenzen (= es sind Anhaltspunkte da) zulässig.[16] Jede Partei muss zudem ihre Erklärungen vollständig abgeben.[17]
Welche Folge hat die Verletzung der Wahrheitspflicht? Bewusst unwahres Parteivorbringen muss das Gericht unberücksichtigt lassen. Außerdem kann ein Prozessbetrug (§ 263 StGB) vorliegen. Zudem kann ein Verstoß gegen § 138 ZPO zum Schadensersatz nach § 823 Abs. 2 BGB (mit § 263 StGB) oder nach § 826 BGB verpflichten. Schließlich kann eine Wiederaufnahmeklage nach § 580 Nr. 4 ZPO in Betracht kommen.
b) Richterliche Hinweispflicht
49
Durch die richterliche Hinweispflicht erfährt der Verhandlungsgrundsatz ebenfalls eine sinnvolle Ergänzung. Nach § 139 ZPO muss das Gericht Sorge tragen, dass lückenhaftes Parteivorbringen nachgebessert wird und sachdienliche Beweismittel benannt werden. Der Richter muss auf Unklarheiten oder Widersprüche im Sachverhalt aufmerksam machen. Diese Hinweispflicht besteht unabhängig davon, ob die Parteien durch einen Anwalt vertreten sind.[18] Die Aufklärung darf allerdings nicht allzu einseitig (= zugunsten einer Partei) erfolgen. Es darf nicht der Eindruck fehlender Neutralität (Befangenheit des Richters nach § 42 ZPO) entstehen. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn der Richter einen „Tipp zur Verjährung“ gibt.[19] § 139 ZPO ist wegen des Gleichbehandlungsgebots der Parteien eine „Spagatvorschrift“, die dem Gericht bei seiner materiellen Prozessleitung souveränes und weitsichtiges Handeln abverlangt.
2. Teil Erkenntnisverfahren › B. Verfahrensgrundsätze › IV. Anspruch auf rechtliches Gehör
1. Rechtsgrundlage und Inhalt
50
Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist eines der wichtigsten Prozessgrundrechte der Parteien. Er ist als grundrechtsgleiches Recht in Art. 103 Abs. 1 GG statuiert. Darüber hinaus ist er in Art. 6 Abs. 1 EMRK verankert. Das Gebot des rechtlichen Gehörs verpflichtet die Gerichte, den Sachvortrag der Parteien zu berücksichtigen und die angebotenen Beweise zu erheben.[20] Das Gericht muss den Parteien vor Erlass einer Entscheidung Gelegenheit geben, ihren jeweiligen Standpunkt in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht vorzutragen. Dabei darf das Gericht nicht nur als „Briefkasten“ fungieren, sondern muss zeigen, dass es sich aktiv mit dem Vortrag der Parteien auseinander setzt („Echoprinzip“). In den Entscheidungsgründen ist daher auf den zentralen Kern des Tatsachenvortrags einzugehen.[21] Ein Gehörsverstoß liegt vor, wenn das Gericht den Antrag einer Partei auf Ladung des Sachverständigen zur Erläuterung seines schriftlichen Gutachtens ablehnt oder über das Beweisergebnis überhaupt nicht diskutiert[22] oder Widersprüche zwischen Sachverständigen- und Privatgutachten übergeht.[23] Umstritten ist, ob der Anspruch auf rechtliches Gehör das Gericht zu einem Rechtsgespräch verpflichtet. Die h.M. lehnt dies ab.[24] Zu rechtlichen Gesichtspunkten, die eine Partei erkennbar übersehen hat, muss ihr allerdings Gelegenheit zu Stellungnahme (§ 139 Abs. 2 ZPO) gegeben werden, um Überraschungsentscheidungen zu verhindern.[25]
2. Ausnahmen
51
In besonders dringlichen Fällen, wie im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes (§ 937 Abs. 2 ZPO) oder in der Zwangsvollstreckung (§ 834 ZPO), wird auf eine vorherige Anhörung des Gegners verzichtet. Grund ist, dass der Zweck des Verfahrens andernfalls vereitelt werden könnte. Das rechtliche Gehör wird aber nachgeholt, wenn der Betroffene Rechtsbehelfe einlegt.
3. Rechtsbehelfe
52
Ein Verstoß gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör ist ein Verfahrensfehler und muss zunächst mit den normalen Rechtsmitteln (Berufung, Revision) geltend gemacht werden. Ist ein Rechtsmittel nicht gegeben (z.B. Streitwert unter 600 €), kommt die Anhörungsrüge gem. § 321a ZPO in Betracht. Dieser außerordentliche „Sonderrechtsbehelf“ wurde 2002 wegen der Überlastung des Bundesverfassungsgerichts in die ZPO eingeführt und 2005 nochmals abgeändert.[26] Nun ist die Anhörungsrüge gegen alle gerichtlichen Entscheidungen (nicht nur Urteile) statthaft. Beispielsweise ist sie möglich, wenn die Berufung wegen Unterschreitens der Berufungssumme von 600 € (§ 511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO) oder Nichtzulassung (§ 511 Abs. 2 Nr. 2 ZPO) unstatthaft ist. Zweck dieses neuen Rechtsbehelfs ist eine Selbstkorrektur durch die Fachgerichte. Die Anhörungsrüge ist kein Rechtsmittel, weil ihr Devolutiv- und Suspensiveffekt fehlen.[27] Die Gehörsrüge muss binnen einer Notfrist von zwei Wochen, spätestens aber innerhalb eines Jahres seit Bekanntgabe der angegriffenen Entscheidung durch Einreichung eines Schriftsatzes geltend gemacht werden (§ 321a Abs. 2 ZPO). Das Verfahren findet vor dem judex a quo (vor dem Ausgangsgericht, nicht vor dem übergeordneten Gericht) statt. Weist der Betroffene eine entscheidungserhebliche Verletzung des rechtlichen Gehörs nach, versetzt das Gericht den Prozess in die Lage vor Schluss der mündlichen Verhandlung zurück und führt den Prozess weiter (§ 321a Abs. 5 ZPO). Die Anhörungsrüge selbst bewirkt keine weitere Verjährungshemmung.[28] Wird der Verletzung nicht abgeholfen, bleibt die Möglichkeit der Verfassungsbeschwerde, da nun der Rechtsweg erschöpft ist.[29] Die Anhörungsrüge kann allein wegen Verstoßes gegen Art. 103 Abs. 1 GG (rechtliches Gehör) erhoben werden. Die Verletzung anderer Verfahrensgrundsätze (z.B. Gebot fairen Verfahrens) wird nicht von § 321a ZPO erfasst.[30]
JURIQ-Klausurtipp
Die Anhörungsrüge = Gehörsrüge nach § 321a ZPO ist ein relativ neuer Rechtsbehelf und daher in jedem Fall examensrelevant.