Название: Zivilprozessrecht
Автор: Irmgard Gleußner
Издательство: Bookwire
Серия: JURIQ Erfolgstraining
isbn: 9783811475212
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c) Verfahrensbeendigung
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Die Parteien haben es auch in der Hand, dem Gericht den Rechtsstreit „wieder wegzunehmen“. So kann der Kläger seine Klage zurücknehmen (§ 269 ZPO) oder auf den geltend gemachten Anspruch verzichten (§ 306 ZPO). Im Fall eines Verzichts darf der Kläger nicht mehr mit der gleichen Sache zu Gericht. Er ist endgültig ausgeschlossen. Der Beklagte kann den Anspruch des Klägers nach § 307 ZPO anerkennen und damit einen Schlussstrich ziehen. Das prozessuale Anerkenntnis wirkt, egal ob der Anspruch in Wahrheit tatsächlich besteht oder nicht. Die Parteien können zusammen einen Prozessvergleich schließen (§ 794 Abs. 1 Nr. 1 ZPO) oder den Rechtsstreit übereinstimmend nach § 91a ZPO für erledigt erklären. In sämtlichen Fällen darf das Gericht nicht mehr über den ursprünglichen Antrag des Klägers entscheiden. Es muss lediglich eine Kostenentscheidung treffen.
2. Durchbrechung des Dispositionsgrundsatzes
a) Höherrangige Interessen
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In bestimmten Situationen muss der Dispositionsgrundsatz (zum Teil) durchbrochen werden, vor allem wenn es um überparteiliche, staatliche Interessen geht. In Ehe- und Kindschaftssachen ist der Grundsatz beispielsweise eingeschränkt (kein Anerkenntnis im Scheidungsprozess, § 113 Abs. 4 Nr. 6 FamFG). Da in Mietsachen sozialpolitische Erwägungen eine erhebliche Rolle spielen, ist das Gericht bei der Entscheidung über die Fortsetzung eines Mietverhältnisses (§ 308a Abs. 1 ZPO) oder über die Frist zur Räumung von Wohnraum (§ 721 ZPO) nicht an die Anträge der Parteien gebunden. Auch die Kostenentscheidung (§§ 91 ff. ZPO) ergeht von Amts wegen. Das Gericht entscheidet also unabhängig von den Parteianträgen, ob die Kosten des Rechtsstreits vom Kläger allein, vom Beklagten allein oder von beiden anteilig getragen werden müssen. Ebenso ergeht die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit (§§ 708 ff. ZPO) von Amts wegen. Das Gericht entscheidet frei darüber, ob der Kläger gegen den Beklagten sogleich vollstrecken darf, auch wenn der Beklagte in die Berufung geht und der endgültige Ausgang des Rechtsstreits ungewiss ist.
b) Richterliche Hinweispflicht
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Ein besonderes Spannungsverhältnis besteht zwischen dem Dispositionsgrundsatz und der richterlichen Hinweispflicht des § 139 ZPO. Eigentlich ist es Sache der Parteien bzw. ihrer Anwälte, richtige und vollständige Anträge bei Gericht zu stellen. Das ist manchmal aber gar nicht so einfach (selbst für Rechtsanwälte). Besonders hoch sind die Hürden bei Unterlassungsanträgen.[5] Nach § 139 Abs. 1 S. 2 ZPO ist das Gericht daher verpflichtet, darauf hinzuwirken, dass die Parteien sachdienliche Anträge stellen. Pauschale Hinweise des Gerichts reichen hierfür nicht.[6] Das Gericht kann eventuell Formulierungshilfen geben. Die Vorschrift des § 139 ZPO fordert das Gericht zu aktiver und unterstützender Verhandlungsleitung auf.[7] Es bleibt allerdings den Parteien überlassen, ob sie Nachbesserungen vornehmen.
2. Teil Erkenntnisverfahren › B. Verfahrensgrundsätze › III. Verhandlungsgrundsatz
1. Einführung und Inhalt
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Im Zivilprozess herrscht der sog. Verhandlungsgrundsatz (= Beibringungsgrundsatz). Sein Gegenstück ist die sog. Inquisitionsmaxime (= Untersuchungs- oder Amtsermittlungsgrundsatz), die u.a. im Strafverfahren Geltung hat.[8] Inquisition kennt man aus den Hexenprozessen, in denen mit Hilfe der Folter als Beweismittel das Gericht von Amts wegen „die Wahrheit“ erforschte. Im Zivilprozess kann das Gericht unter Geltung des Verhandlungsgrundsatzes nicht eigenmächtig Tatsachen ermitteln und die Wahrheit von Behauptungen überprüfen, um die wahre Rechtslage herauszufinden. Die Parteien entscheiden vielmehr allein darüber, welche relevanten Tatsachen „auf den Tisch kommen“ und welche nicht. Der Verhandlungsgrundsatz ist Ausdruck der Privatautonomie, die staatliche Einmischung in privatrechtlichen Angelegenheiten grundsätzlich untersagt. Eine wichtige Ausnahme findet sich in Familiensachen und in Angelegenheiten der Freiwilligen Gerichtsbarkeit; hier ist in §§ 26, 29 FamFG der Amtsermittlungsgrundsatz statuiert, der allerdings zugunsten des Verhandlungsgrundsatzes gelegentlich (§§ 127, 177 FamFG) durchbrochen wird. Dass die Prozessvoraussetzungen von Amts wegen geprüft werden, hat mit dem Untersuchungsgrundsatz nichts zu tun. Denn auch diesbezüglich müssen die Parteien die erforderlichen Nachweise liefern.[9]
2. Konsequenzen für das Gericht
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Das Gericht darf nur Tatsachen berücksichtigen, die von den Parteien selbst vorgetragen wurden. Privates Wissen des Richters oder nicht von den Parteien vorgetragene Tatsachen dürfen nicht in das Prozessergebnis einfließen (Ausnahme: offenkundige Tatsachen, § 291 ZPO). Wird eine Akte beigezogen, muss sich die Partei auf konkrete Aussagen darin berufen.[10] Trägt der Kläger Tatsachen vor, aus denen sich ergibt, dass der geltend gemachte Anspruch nicht besteht, muss das Gericht die Klage als unschlüssig (= unbegründet) abweisen.[11] Dies ist Konsequenz der Darlegungslast des Klägers. Welche der vorgetragenen Tatsachen tatsächlich bewiesen werden müssen, unterliegt ebenfalls der Parteiherrschaft. Beweisbedürftig sind nur solche Tatsachen, die der Gegner bestreitet. Nicht bestrittene Tatsachen (§ 138 Abs. 3 ZPO) oder vom Gegner zugestandene Tatsachen (§ 288 ZPO) müssen vom Gericht akzeptiert werden und sind dem Urteil zugrunde zu legen, selbst wenn der Richter vom Gegenteil überzeugt ist.
Ausgangsfall
Mona behauptet in ihrer Klage gegen die V-GmbH, dass sie dieser mit E-Mail vom 6.2.2017 ein Nachbesserungsverlangen übermittelt habe. Die V-GmbH bestreitet den Erhalt der E-Mail nicht (obwohl sie diese vielleicht nie bekommen hat). Dann muss der Richter vom Zugang der E-Mail ausgehen.[12]
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Die Beweismittel selbst liegen nicht mehr ausschließlich in den Händen der Parteien. Insofern ist der Verhandlungsgrundsatz eingeschränkt. Lediglich beim Zeugenbeweis ist der Richter auf den Vortrag und die Beweisangebote der Parteien angewiesen. Von Amts wegen darf der Richter keinen Zeugenbeweis anordnen. Alle übrigen Beweismittel darf das Gericht aber von Amts wegen heranziehen. Dies gilt für Urkunden (§§ 142, 143 ZPO), für den Augenschein und Sachverständige (§ 144 ZPO) sowie für die Parteivernehmung (§ 448 ZPO). Voraussetzung ist aber, dass hierzu streitiger Parteivortrag vorliegt.[13] Besonders bedeutsam für die Praxis ist die Anordnung der Urkundenvorlegung (§ 142 ZPO). Hier kann der Richter die Vorlagenanordnung nicht nur gegen die Partei erlassen, sondern auch gegen den Prozessgegner oder gegen einen nicht am Rechtsstreit beteiligten Dritten, und zwar unabhängig vom Bestehen eines materiell-rechtlichen Anspruchs oder der Beweislast.[14] Die Zurückdrängung des Verhandlungsgrundsatzes zugunsten eines Machtzuwachses des Gerichts ist im Hinblick auf die materielle Gerechtigkeit zu begrüßen.
3. Abgrenzung
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Der Verhandlungsgrundsatz bezieht СКАЧАТЬ