Название: Nächster Halt: Darjeeling-Hauptbahnhof
Автор: Christoph Kessel
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783745004892
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Während der Busfahrt konnte ich mich mit Andria gut über ihr Land und ihre Landsleute unterhalten. Sie erzählte mir, dass im Fernsehen permanent erzählt würde, dass die ganze Welt Amerikaner hasste. Als ich ihr klarmachte, dass die Kritik sich gegen George W. Bushs Politik und nicht gegen das Volk richtete, war sie ziemlich überrascht. Nun kann ich diesen Patriotismus nachvollziehen, den die Leute an den Tag legten. Wenn man die ganze Zeit erzählt bekommt, dass dich jeder hasst, schweißt das ganz sicher zusammen. Von Manipulation der Massen zu reden, ist in diesem Kontext sicherlich nicht falsch. Ich wurde auch von Amerikanern angesprochen, ob ich Bundeskanzler Schröder gut fände. Als ich sagte, dass ich ihn dem Unionskanidaten Stoiber vorziehen würde, lehnten sie ab, weiter mit mir über Politik zu reden.
Auf der Fahrt von White River Junction nach Burlington lernte ich Byron kennen, der auch in diese Studentenstadt unterwegs war. In Burlington angekommen, rief er seine Kumpels an, die mich direkt auf den Campingplatz der Stadt fuhren. Denn eine dritte Nachtwanderung innerhalb weniger Tage wäre mir wirklich zu viel gewesen. Dafür wurde ich nachts in meinem Zelt »überfallen«. Meine Lebensmittel hatte ich dummerweise ins Vorzelt gelegt. Daraufhin kamen Eichhörnchen und versuchten mein Müsli zu klauen. Aber ich verteidigte erfolgreich mein Essen gegen diese »Terroristen«.
Burlington war eine eher untypische amerikanische Kleinstadt in einem eher untypischen US-Bundesstaat. Vermont ist vielleicht der liberalste Staat der ganzen USA. Schließlich gibt er gleichgeschlechtlichen Partnerschaften die gleichen Rechte wie Partnerschaften zwischen Mann und Frau. Für einige US-Bundesstaaten wäre dies der glatte Wahnsinn. Der Spitzname »Green Mountain State« und die durchweg grünen Nummernschilder lassen schon auf eine gewisse Wertschätzung der Natur schließen. Als ich in Burlington sah, wie umweltbewusst die Leute sind, war ich tief beeindruckt. Mülltrennung, eine Recyclingfirma, dutzende Meilen von Fahrradwegen, Fußgängerzonen und drakonische Strafen für Leute, die ihren Müll nicht korrekt entsorgen – wahlweise 500 US-Dollar oder zehn Tage Gefängnis. Vermont ist zu Recht stolz auf seinen selbstgewählten Sonderstatus, und man legt Wert darauf, dass der Besucher weiß, dass Vermont sogar von 1777 bis 1791 ein souveränes Land war, ehe man sich den Vereinigten Staaten anschloss.
Alle zwei Jahre finden in den USA Wahlen für den Gouverneur, den Senat und das Repräsentantenhaus statt. So auch in diesem Jahr. Dabei sah der Straßenwahlkampf etwas anders aus als bei uns. Statt Wahlplakaten fand ich in den Städten und Dörfern im Vorgarten der Leute kleine Schilder mit dem Namen der Kandidaten darauf. Parteien und teilweise Nachnamen oder gar Wahlslogans fand ich überhaupt nicht. So wollte in Vermont beispielsweise Bernie – Nachname unbekannt – wiedergewählt werden. Gegenkandidat Jim Douglas gibt wenigstens noch eine Webseite an, seine Parteizugehörigkeit hingegen bleibt im Dunkeln. Dies ist der personalisierte Wahlkampf in Rein-Form, wie wir ihn zwischen Stoiber und Schröder auch gerade hatten. Dass lediglich wir Deutschen die »Kultur« der Amerikaner übernehmen ist falsch, da umgekehrt das selbe gilt. Hier gibt es doch tatsächlich Aldi. Viele Leute laufen mit den orange-blauen Aldi-Tüten durch die Gegend, sodass ich mich fast wie zu Hause fühlte. Auch Fußball wird langsam wirklich populär. Und das Oktoberfest mit Sauerkraut, Wurst und viel dünnem Bier ist Kult.
Nachdem ich in Burlington einen ganzen Tag lang mit einem ausgezeichneten Rad auf herrlichen Radwegen die langsam in Herbststimmung getauchte Landschaft entdecken durfte, ging es nun wieder mit dem »Dog«,{47} wie die Amerikaner sagen, auf Achse. Vor mir lag eine 25-Stunden-Fahrt durch vier Bundesstaaten nach Chicago, Illinois.
Der »Milk Run«{48} führte zunächst durch zahlreiche Dörfer aus Vermont hinaus in die Hauptstadt des Bundesstaates New York nach Albany. Dass sich in Amerika die Hauptstädte der Staaten meist in gottverlassenen Dörfern befinden, werde ich wahrscheinlich nie verstehen.{49} New York bezeichnet sich dazu noch als »Empire State«. Wie müsste sich dann Rheinland-Pfalz mit seiner Landeshauptstadt Mainz und seinen 185.000 Einwohnern nennen? Für die 200 Kilometer brauchte der Bus glatte fünf Stunden. Für den nächsten Bus stellte ich mich rechtzeitig an, und dieses Mal waren zwei andere Personen die Dummen, die nun auf den zehn Minuten später sicherlich nicht abfahrenden Bus warten durften. Von Albany fuhr ich durch »Klein Holland« an Dörfern wie Amsterdam oder Rotterdam Junction und an gelbrot gefärbten Wäldern vorbei, dem Sonnenuntergang entgegen. Irgendwann machten wir endlich einen Stopp in Rochester, New York, um etwas zu essen zu bekommen. Beim einzigen so genannten »Restaurant« handelte es sich um eine Subway Filiale, die normalerweise Sandwiches herstellt. Leider war aber gerade das Brot ausgegangen. Prima, wie sollte ich nun einen Sandwich ohne Brot essen? Da half nur noch die »wunderbare« Automatenkost, die aus Cola und Nacho-Chips bestand.
Nachts erreichten wir Buffalo, New York. In mir keimte wieder Hoffnung auf, etwas zu essen zu bekommen. Doch natürlich waren alle Restaurants um diese Zeit geschlossen. Aus einem Loch in der Wand verkaufte jemand noch Cheeseburger à la Mikrowelle. Damit wenigstens etwas zu schmecken war, wurde der Plastik-Burger dermaßen mit Ketchup und Senf vollgeladen, dass meine Hose auch noch reichlich mitessen durfte. Jetzt war ich am erwarteten kulinarischen Supergau angelangt. Erst um drei Uhr morgens, bei der Ankunft in Cleveland, Ohio, bekam ich schließlich einen Kaffee, der allerdings auch sehr künstlich schmeckte, dem Süßstoff und dem Milchpulver sei Dank. Ohio bezeichnet sich selbst als »Buckeye State«.{50} Im Morgengrauen erreichten wir den nächsten Staat, Indiana und endlich ein Wendy’s, in dem es halbwegs essbares Futter gab. Indiana hat zwei Spitznamen. Der eine lautet »Crossroads of America«, was natürlich stimmt. Schließlich kommt man auf dem Weg von Nord nach Süd, oder von Ost nach West fast unweigerlich durch diesen zentral gelegenen Bundesstaat. Der andere Spitzname lautet »Hoosier State« und stammt aus der Zeit der ersten Siedler im 19. Jh. Immer wenn es an der Tür klopfte, wurde von innen gefragt: »Who is here?«, so entstand schließlich das Wort »Hoosier«.
Nach 25 Stunden Fahrt und 1.600 strapaziösen Kilometern erreichte ich den Zielstaat Illinois mit seiner Metropole Chicago. Illinois Spitzname ist banal und lautet »Land of Lincoln«. Da ich von der Busfahrt ziemlich kaputt war, lief ich in Chicago, um mich wieder einmal richtig locker zu machen, ein bisschen ziellos durch die Kulisse der Wolkenkratzer und Parks direkt am Lake Michigan.
Beim Flanieren durch Chicagos Straßen stand ich plötzlich vor dem Hancook-Hochhaus, mit seinen 95 Stockwerken nicht ganz so hoch wie der berühmte Sears Tower, der höher als das frühere World Trade Center ist. Eigentlich kostete es sieben US-Dollar, um mit dem Aufzug nach oben zu gelangen. Doch irgendwie landete ich in einer Gruppe von elegant gekleideten Herrschaften und plötzlich befand ich mich im Aufzug nach oben. Dort landeten wir in einem Nobelrestaurant, und ich rechnete jeden Augenblick damit, sofort wieder hinausgeworfen zu werden. Stattdessen wurde mir ein Platz am Fenster mit Aussicht auf die imposante Skyline der Stadt angeboten, auf die ich beim Sonnenuntergang mit einem Guiness vom Fass anstoßen konnte. Am nächsten Tag bekam ich von einem Chicagoer einen Tipp, einmal in die »German Neighbourhood« zu fahren, um ein bisschen »deutsche Luft« zu schnappen. Mit dem »El«, einer Bahn, die auf Stelzen überirdisch verläuft, fuhr ich hinaus aus der Innenstadt. Weit außerhalb von Downtown lag »Little Germany«, das durch und durch mit Kneipen bestückt war, die »Carolas Hansa Clipper« oder »Brauhaus« hießen. Bei »Meyers Delikatessen« gab es nicht nur Wurst und Brot, sondern auch die »Eintracht«, eine Zeitung in Deutsch von Deutschamerikanern für Deutschamerikaner. Es war interessant, sich mit amerikanischen Staatsbürgern auf Deutsch bei einem Weizen vom Fass zu unterhalten.
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