Название: Nächster Halt: Darjeeling-Hauptbahnhof
Автор: Christoph Kessel
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783745004892
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Der »Dog« und seine Tücken
Etappe: Von Bar Harbour ME, USA 44° Nord 68° West (GMT -4) nach St. Louis MO, USA 39° Nord 90° West (GMT -5): 2.573 km – Total 16.843 km
St. Louis, 10. Oktober 2002
Mit der Ankunft in meinem ersten US-Bundesstaat auf dieser Reise, dem kleinen Maine, befand ich mich weiterhin auf der Spur der Wikinger, die vor 1.000 Jahren etwa bis zum heutigen New Jersey vorgedrungen waren. Maine gehört zu den sechs Bundesstaaten, die die so genannten »Neu-England-Staaten« bilden. Grob genommen ist dies der äußerste Nordosten der USA. Maines Spitzname lautet »Pine Tree State«, wegen der vielen Pinien, die es einmal gegeben hatte – nun leider aber nicht mehr allzu häufig gab. In Maine fing nun meine Reise quer durch das Land von Küste zu Küste mit einer urtypischen amerikanischen Institution an, die alle kennen, aber wahrscheinlich noch niemand aus der Leserschaft genutzt hat: den Greyhound. Die wenigen Leute, die ich traf und die mit diesen Überlandbussen unterwegs gewesen waren, hatten nur Horrorgeschichten auf Lager. So war ich gespannt, was ich alles zu erzählen hätte. Leider verlief meine erste Fahrt von Bar Harbour nach Boston ebenfalls nicht gerade allzu angenehm.
Zunächst durfte ich morgens um halb fünf im Platzregen aufstehen und mein Zelt zusammenpacken. Der einzige Bus von Bar Harbour nach Boston musste unbedingt morgens um halb sieben abfahren. Glücklicherweise nahm ich den Luxus eines Taxis in Anspruch, um nicht im Dauerregen zur Busstation zu gelangen, ansonsten wäre ich wahrscheinlich total aufgeweicht worden. Da ich in den USA permanent Gefahr lief, wegen Vitaminmangels an Skorbut zu erkranken, da es im preiswerten Nahrungsmittelsektor meist nur Chips und Cola zum Essen und Trinken gab, stopfte ich mich im Bus mit Pflaumen und Birnen aus einem Vegetarier-Laden voll. Daraufhin bekam ich im Bus allergrößte Magenkrämpfe. Neben mir saß dazu noch ein Mitsechziger, der statt die amerikanische Fahne zu schwenken, eher mit seiner starken Alkoholfahne auf sich aufmerksam machte. Zudem nickte er leider gleich nach Fahrtantritt ein und begann ein DauerSchnarch-Konzert. Nach sieben Stunden Fahrt war ich endlich in Boston, Massachusetts, angekommen. Der Staat trägt zu Recht den Spitznamen »Spirit of America«.
Boston gilt als Geburtsstätte der Vereinigten Staaten. In der Stadt startete die amerikanische Revolution und dort entsprang auch der für die USA so typische Patriotismus. Vor der Revolution gab es die amerikanische Nation überhaupt noch nicht. Vielmehr waren mehrere Staaten aus der »Alten Welt« damit beschäftigt, sich diesen Kontinent untereinander aufzuteilen und schließlich später gegenseitig abzuringen. Die Spanier unter Christoph Kolumbus waren seit 1492 auf dem heutigen Gebiet der USA vor allem im Westen und Süden aktiv. Die Franzosen unter Cartier bauten hingegen Forts von Québec in Kanada den Mississippi hinunter bis nach Nouvelle Orléans, dem heutigen New Orleans. Die Engländer hingegen bauten unter Cabot an der Ostküste jeweils eigenständige Kolonien auf. Diese bildeten die Basis der heutigen Oststaaten. Sogar die Holländer im heutigen New York, damals »Nieuw Amsterdam« genannt, und die Schweden auf der Delaware-Halbinsel mischten im großen Spiel mit. Ganz im Westen traf man bis zum 17. Jh. an der Küste nördlich vom heutigen San Francisco sogar auf russische Stützpunkte, die von Pelzhändlern aufgebaut worden waren. Doch die dominierende Macht wurde mit der Zeit England. Nieuw Amsterdam wurde von den Holländern gegen Surinam eingetauscht, die Schweden gingen mehr oder weniger freiwillig. Die Franzosen wurden im 7-jährigen Krieg um 1760 besiegt. 1763 verlor Frankreich nicht nur Kanada, sondern auch das gesamte Territorium auf heutigem US-Boden mit der Ausnahme von New Orleans und Lousiana.
Auslöser für die amerikanische Revolution war eine große Steuererhöhung durch das Empire in den Kolonien an der Ostküste. 1773 fingen die Kolonien an, britische Güter zu boykottieren und kippten riesige Teeladungen in den Hafen von Boston. Dieses Ereignis ging als so genannte »Boston Tea Party« in die Geschichtsbücher ein. Daraufhin wurde der Bostoner Hafen von den Briten geschlossen. 1775 startete schließlich in Boston die Revolution unter ihrem Führer George Washington, als britische Truppen von Revolutionsgarden beschossen wurden. Mitten im Krieg am 4. Juli 1776 erklärten 13 britische Kolonien, die heutigen Bundesstaaten entsprechen, ihre Unabhängigkeit vom Empire in Philadelphia. Der Krieg wurde durch das Eingreifen der Franzosen ab 1778 auf der Seite der neuen amerikanischen Nation gegen die Briten drei Jahre später im Jahre 1781 entschieden. 1783 wurde die amerikanische Unabhängigkeit im Vertrag von Paris allgemein anerkannt. Die Westgrenze bildete der Mississippi. Spanien hielt weiterhin Florida und das Land westlich vom Mississippi. Die neu entstandenen Vereinigten Staaten von Amerika bestanden damals lediglich aus ehemaligen britischen Kolonien östlich des Appalachen-Gebirges. Das Gebiet westlich der Appalachen zum Mississippi hin war lediglich US-Territorium. Es entstand dort damals noch kein Bundesstaat.
Als erstes gab ich in Boston den Reiseführer über Kanada wieder brav ab. Der Reiz an Boston bestand für mich an dem starken Kontrast zwischen alten Häusern und Friedhöfen, die direkt neben riesigen Wolkenkratzern etwas deplatziert wirkten. Ansonsten genoss ich es einfach, in den vielen kleinen Straßen spazierenzugehen und das Leben auf der Straße zu beobachten. Morgens um halb acht scheinen alle Bostonians wie ferngesteuert ihrem Pappbecher Kaffee zu folgen, den sie vor sich wie einen Joystick halten. Wie von Geisterhand gesteuert, schwirren die Menschen durch die Straßen und schaffen es doch tatsächlich, sich den Kaffee nicht gegenseitig überzukippen. In Boston traf ich zum ersten Mal auf die traumatischen, patriotischen Reaktionen, die 09/11 folgten. Überall wehte das Sternenbanner, und häufig fand ich Sprüche wie »We’ll never forget«{45} oder »Together we stand«{46}. Dass das Sternenbanner aber auch den grünen Hahn von der Corn-Flakes-Packung vertrieben hatte, finde ich etwas übertrieben.
Da ich mich in Großstädten nicht allzu lange aufhalten mochte, wollte ich mit dem Greyhound wieder hinaus ins Hinterland der Neu-Englandstaaten fahren, genauer gesagt nach Vermont. Doch Reisen mit dem Greyhound-Bus bringt immer wieder neue Abenteuer mit sich, die die Tour abwechslungsreich gestalteten. Da die Amerikaner das »Queueing« von den Engländern übernommen hatten, standen vor jedem Bus die Passagiere geduldig schon eine halbe Stunde vor der Abfahrt an. Ich dachte, ich besitze ein Ticket und telefoniere lieber nochmals mit meinen Eltern in Deutschland. Das war leider ein Fehler. Ich reihte mich schließlich als letzter in die Schlange ein, aber als ich in den Bus stieg, waren alle Plätze bereits belegt. Außer mir fand noch eine weitere Person keinen Sitzplatz mehr. Der Fahrer wollte uns erst auf dem Gang mitnehmen, sagte schließlich aber, dass ein zusätzlicher Bus zehn Minuten später abführe. Das glaubte ich allerdings nicht und wollte an Bord bleiben. Aber der Busfahrer warf mich mehr oder weniger aus dem Bus hinaus. So regelte man das bei Greyhound mit überbuchten Bussen. Schnell konnte ich noch meinen Rucksack aus dem Gepäckraum des Busses herausholen. Dafür bekam ich allerdings einen Anschiss vom Fahrer, denn dies wollte er auch nicht. Aber ich bleibe doch lieber gemeinsam mit meinem Rucksack stehen, ansonsten würde ich ihn eventuell nie wiedersehen.
Die andere Person, Andria, eine Italo-Amerikanerin, war für mich anfangs typisch amerikanisch: naiv und höflich. Sie machte Platz für eine andere Person, die irgendwo einen Anschluss-Bus erreichen wollte. Dabei musste Andria einen Transatlantik-Flug abends in Montreal erreichen. Dumm gelaufen, da natürlich kein Bus kam. Dank Andrias italienischem Temperament konnte ich mir die »Jetzt-flippe-ich-total-aus-Show« sparen. Diese spulte Andria für uns beide ab, während ich auf unser Gepäck aufpasste. Was hatte ich auch zu meckern? Ob ich nun in Burlington, Vermont, abends um sieben oder um elf ankam war mir letztendlich egal. Die Hauptsache bestand im Ankommen. Andrias Lage war weitaus dramatischer. Der nächste Bus fuhr dreieinhalb Stunden später ab. Andria bekam ein Gratis-Ticket, verpasste aber dafür definitiv ihren Flug nach Europa. Ich durfte auch ein Beschwerdeschreiben unterzeichnen, auf das sich aber nie wieder jemand bei mir gemeldet hat. Manche Mitarbeiter von Greyhound waren allerdings wirklich hilfsbereit, muss ich zu ihrer Rettung gestehen. Ein Busfahrer, der das ganze Theater verfolgt hatte, meinte, er würde bereits eine Stunde früher als der andere Bus nach White River Junction fahren. Wo lag eigentlich White River Junction? Nun gut, hinein in den Bus. Wir hofften einfach, einen Anschluss in White River in Richtung Vermont und Montreal zu bekommen.
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