Название: Nächster Halt: Darjeeling-Hauptbahnhof
Автор: Christoph Kessel
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783745004892
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Um von St. John’s aus meine Reise durch den amerikanischen Kontinent zu beginnen, startete ich mit einem so genannten Van-Service, um den kleinen Katzensprung von 350 Kilometern auf die Burin-Halbinsel zurück zu legen. Normale Busse existieren in Neufundland kaum, sondern eher Wagen in Gestalt kleiner alter Schulbusse, die die Passagiere von zu Hause abholen und am Bestimmungsort möglichst noch bis in die Küche bringen. Leider wurde ich in St. John’s als erster abgeholt und durfte anschließend eine Stunde lang eine kostenlose Stadtrundfahrt genießen, da wir jeden Passagier abholten. Als sich endlich alle Kunden an Bord befanden, ging es »on the road«.
Die Landschaft mit ihren endlosen Nadelwäldern, Seen und Hügeln zog mich sofort in ihren Bann. Doch auf die Dauer wäre dies ohne die richtig Musik im Bus sicherlich langweilig geworden. Dementsprechend genoss ich die Landschaft, während ich durch das Radio des Fahrers mit Aerosmiths »Dream On« und Guns N’ Roses »Paradise City« beschallt wurde. Meine Mitreisenden, die alle so um die 70 waren, Fahrer inklusive, fuhren anscheinend auch auf den Hard-Rock ab, denn die Baseball-Mützen wippten alle richtig im Takt. Danach bekam ich eine Kostprobe vom Fastfood der besonderen Art. Der Fahrer hatte sich an der Tankstelle eine Portion Hähnchenschenkel gekauft, musste aber unbedingt gleich weiterfahren. Geschickt wurde der Plastikteller am Armaturenbrett eingeklemmt. Ein Müllbeutel am Hebearm zur Passagiertür diente gleichzeitig als Basketballkorb. Während er mit der einen Hand lenkte, hielt der Fahrer in der anderen den Hähnchenschenkel, der schließlich abgeknabbert mit einem geschickten Wurf in Richtung Tür meist im Müllbeutel landete.
Die Kopf schwingenden Omas und Opas hingegen schlürften ihre Diät-Cola und mampften Chips im Takt dazu. Danach zog sich jeder einen Kaugummi rein und es wurde zur Musik im Radio eine eigene Blasmusik mittels Kaugummi dargeboten. Schließlich fuhren wir leider aus dem Sendebereich des Radios hinaus, dem Sonnenuntergang entgegen. Um die Stille zu übertönen wurde eine Kassette eingelegt, auf der sich die Lieblingssongs unseres Fahrers befanden. Erst sang er bei der Newfie-Countrymusic, die der irischen Folk-Music ähnelt, lauthals mit. Danach kam der Höhepunkt mit »Joyride« von Roxette, wo er endlich richtig pfeifen konnte und bei starkem Gefühlsausbruch auch das eine oder andere Mal die Hupe betätigte. Schließlich kamen wir wieder in den Bereich eines Radiosenders. Statt in Neufundland nicht existierende Staus zu erwähnen, berichten die Radiosprecher über »Moosecide«, Unfälle mit dem Auto, bei denen der Elch eine entscheidende Rolle spielt. Die größte Gefahr beim Fahren auf den Straßen besteht im Osten Kanadas tatsächlich in der Kollision mit einem Elch, der gerne nachts auf den geteerten Trassen entlang zieht, da dies natürlich weniger Kraft beansprucht, als querfeldein zu laufen.
Am nächsten Tag war nach über vier Wochen mein kulinarischer Leidensweg zu Ende. Ich reiste endlich wieder in die »Grande Nation« ein. Mit der Fähre fuhr ich von der Küste Neufundlands aus nach Westen. Nach einer Stunde kam ich in St. Pierre, der Hauptstadt des Territoire-d’Outre-Mer St. Pierre et Miquelon an. Nicht nur John Cabot fuhr im 16. Jh. an der Küste Neufundlands entlang. Auch andere Nationen bekamen Wind von den fischreichen Gewässern in diesem Teil der Erde. So zogen Bretonen, Basken und Normannen ebenfalls zum Fischen in die Neue Welt und besiedelten »S.P.M.«, wie die Bewohner dieses französischen Archipels ihre Heimat nennen. Bis zum heutigen Tag sind die Inseln französisches Überseeterritorium. Zahlungsmittel ist seit 2002 der Euro. Es gibt Europakennzeichen, Croissants, Baguette, französischen Rotwein, guten Käse und Renault »Twingos« – alles sicher einzigartig in Nordamerika. Die Stadtverwaltung von St. Pierre hat sogar einen Kreisverkehr angelegt, wobei die eine Ausfahrt allerdings gleichzeitig eine Garageneinfahrt war. Es existieren schließlich kaum Straßen und dementsprechend auch wenig Kreuzungen. Dafür fahren aber zur Genüge Autos herum. Vor dem chaotischen französischen Fahrstil, der in Nordamerika ansonsten völlig unbekannt ist, wurde ich von den Newfies noch gewarnt, bevor ich Neufundland in Richtung S.P.M. verlassen hatte.
Normalerweise »gewinne« ich beim Weiterreisen nach Westen Zeit, da ich von Zeitzone zu Zeitzone springe. Diese Regel gilt allerdings nicht für den äußersten Nordosten Amerikas. Besitzen die Newfies bereits ihre eigene Zwischenzeit mit viereinhalb Stunden Unterschied zu Deutschland, wird es bei den weiter westlich liegenden französischen Inseln ganz verrückt. Diese nutzen die Grönland-Zeit, die 30 Minuten vor der »Newfie-Zeit« liegt, obwohl sich die Inseln weiter westlich befinden. Die Bewohner von S.P.M. traf das Fischfang-Moratorium genauso wie die Newfies. Daher beschloss man, eine größere Piste zu bauen, auf der alle Flugzeugtypen landen können. Es wurde den Bewohnern versprochen, dass sie einen Anschluss an »La Métropole«{37} über Reykjavik bekommen, wie dies bei französischen Überseedepartements auch üblich ist. Aber daraus wurde leider nichts. Es blieb bei einem Landeversuch mit der Concorde, die aber letztendlich in St. John’s aufsetzte. Eine Direktverbindung nach Frankreich wurde nicht eingeführt. Daher waren die Bewohner ziemlich frustriert, so vom Mutterland im Stich gelassen worden zu sein. Die Flagge von S.P.M. ist einzigartig, denn sie vereint die Fahnen der Normandie, der Bretagne und des Baskenlands. Dass die Bewohner trotz der Abschottung von der Heimat ihrer Vorfahren die Kultur dieser weiterpflegen, zeigt der Platz mitten in St. Pierre, auf dem das traditionelle Pelot{38} gespielt wird. Alles ist in den baskischen Farben grün und rostrot gefärbt und alles steht auf Baskisch geschrieben.
Nach der Rückkehr von S.P.M. nach Neufundland bekam ich eine Kostprobe der Naturgewalten, die in diesem Teil der Welt das Leben der Menschen immer schon bestimmt haben. Da ich am folgenden Tag relativ früh aufstehen musste, übernachtete ich auf einem Campingplatz in einer Schutzhütte, die leider ziemlich luftig war. Dafür musste ich kein Zelt komplett aufbauen und am nächsten Tag eventuell feucht zusammenpacken. Als Windschutz baute ich mein Innenzelt auf und schlief ein. Mitten in der Nacht kam ein Sturm auf, und das Innenzelt hob mit mir in der Hütte fast ab. Dazu gesellte sich ein Platzregen, der mich so richtig durchwusch, so als ob ich mit meiner Matte durch eine Waschanlage fahren würde. Also blieb mir nichts anderes übrig, als meinen Kram, der sich gerade in alle Richtungen verflüchtigte, zusammenzusuchen, und mich in Richtung Toilette in Sicherheit zu bringen. Den Rest der Nacht schlief ich schließlich auf dem stillen Örtchen, das wenigstens trocken war und mir den Luxus von Wärme gab.
Morgens holte mich der Van-Service wieder ab. Es sah schon lustig aus, als der alte Schulbus über den Campingplatz holperte, um mich aufzugabeln, da wieder jeder zu Hause abgeholt wurde. Um mein nächstes Ziel zu erreichen, wurde ich vom Fahrer an einer Tankstelle direkt auf dem Highway abgesetzt. Nach einem typisch nordamerikanischen Frühstück mit dünnem Kaffee und fettigen Muffins in der Tankstelle wollte ich die 14 Kilometer lange Straße bis zu meiner nächsten Fähre wandern. Doch nachdem mich drei Autos überholt hatten, hielt ein Newfie an und fragte, wohin ich wollte. Ich sagte ihm nach »Bay l’Argent«. Ich sprach diesen Ortsnamen natürlich französisch aus, mit der Konsequenz, dass mein Gegenüber von diesem Ort noch nie zuvor gehört hatte. Nach längerem Hin und Her und dem Hinweis, dass ich die Fähre von dort nehmen wollte, sagte er: »You wanna go to Bey Latschent?« Bei der Aussprache des Ortsnamens sträubten sich meine Haare, sodass mir fast die Baseball-Mütze weggeflogen wäre, aber ich bekam dafür einen Ride nach »Bey Latschent« und konnte in aller Ruhe meine nassen Sachen am Hafen ausbreiten und trocknen.
»Christoph!« erschallte es in der Passagierkabine der Fähre. Ich hatte vorher gerade festgestellt, dass ich völlig am Ende der Welt angekommen war, gab es doch nur noch eine andere Passagierin und die Frau, die nun vor mir stand. Ich hatte keine Ahnung, woher ich sie kennen könnte, doch Backpacker sind in diesem Teil Neufundlands nicht so häufig anzutreffen. So hatte Astrid tags zuvor von Kanadiern, die mich in S.P.M. getroffen hatten, erfahren, dass in dieser Gegend noch ein »German« ohne Auto reist. Zusammen genossen wir die an uns vorbeiziehende großartige Landschaft mit den in der Sonne strahlenden Felsen, den saftig-grünen Wäldern und dem tiefen Blau des Wassers. Diese Überfahrt hatten wir uns beide ausgesucht, um den entlegenen Outports einen Besuch abzustatten. СКАЧАТЬ