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sie von ihrer Aufgabe ablenken könnten. Sie schaltete ihren Büro-PC ein und rief ihre Mails ab. Neben einigen internen Nachrichten, die sie ignorieren konnte, lagen zwei Rückmeldungen von Landeskriminalämtern im Posteingang. Das ging ja schnell, sie hatte nicht vor Ende der Woche mit den ersten Antworten gerechnet. Das LKA Berlin schrieb in einer knapp gefassten Nachricht, dass sie wichtigeres zu tun hätten als sich durch einen unendlichen Datenwust zu wühlen, in dem ohnehin nichts steckte, was man nicht längst wusste oder vermutete. Sie könne die Festplatte Ende der Woche wieder haben. Das LKA Baden-Württemberg schrieb, dass es vollkommen aussichtslos sei, die Menge an Daten in dieser kurzen Zeit abzuarbeiten. Man wolle die Aufgabe ernst nehmen und hätte daher beschlossen, ein Team von Fachleuten zusammenzustellen, welches Anfang der kommenden Woche ihre Arbeit aufnehmen und die Daten strukturiert sichten und durcharbeiten würde. Es sei zum momentanen Zeitpunkt nicht möglich, die Dauer einer solchen Arbeit abzuschätzen, der Verfasser der Nachricht ginge aber nicht davon aus, dass dies innerhalb eines Jahres möglich sei. Stefanie Wohlfahrt seufzte. Das war zu erwarten gewesen. Einige LKAs würden eine solche Gelegenheit nutzen wollen, sich so lange durch die Daten zu arbeiten, bis sie ihre Vorbehalte gegen amerikanische Geheimdienstarbeit endgültig bestätigt sähen und am Ende noch eine juristische Auseinandersetzung mit den USA heraufbeschwören könnten. Die Anweisung lautete aber, solchen Impulsen nicht nachzugehen, sondern lediglich eine grobe Sichtung der Daten vorzunehmen und den Fall so schnell wie möglich abzuschließen. Sie überlegte kurz, ob sie eine entsprechende Antwort verfassen sollte, entschied sich dann aber, die Mail an ihren Chef weiterzuleiten, damit dieser sich mit den Kollegen in Baden-Württemberg in Verbindung setzen könnte. Gerade die Schwaben, dachte sie. Die nahmen mit ihrer sprichwörtlichen Gründlichkeit natürlich alles besonders genau. Ihr Chef Mayer sollte sich mit denen rumschlagen und sie einnorden. Mit einem kurzen Vermerk leitete sie die Mail an ihn weiter und holte anschließend die Festplatte aus ihrem Safe. Sie musste sich nun ein System überlegen, nach dem sie vorgehen würde, überlegte sie, während sie die Harddisk an ihren PC anschloss. Die Suchmaske, welche die NSA den Daten beigelegt hatte, war vollkommen ungeeignet, um sinnvolle und zielführende Resultate zu erzielen. Mit den Datei- und Ordnernamen war überhaupt nichts anzufangen, zumindest solange es nicht irgend einen Schlüssel gab, mit dem man ihre Ziffernkombinationen entschlüsseln konnte. Sie bräuchte eine eigene Such- oder Sortiersoftware, welche die Daten in eine chronologische, geografische oder thematische Struktur bringen würde, mit Unterkategorien wie „Videos“, „Tonbänder“, „Bilder“, „Texte“ usw. Das wäre eigentlich die ideale Aufgabe für Michi, dachte sie. Leider war die Sache viel zu heikel, um ihren Nerd-Kumpel dort hinein zu ziehen. Michi war ihr in den letzten Jahren einige male sehr nützlich gewesen, als er ihr bei technischen Fragen geholfen oder für sie Daten zugänglich gemacht hatte, die sie mit ihren beschränkten Mitteln nicht hätte bekommen können. Sie hatte ihn nie danach gefragt, ob er dabei ausschließlich legale Methoden genutzt hatte, bei seinen ausgeprägten Computerkenntnissen hätte sie sich aber nicht gewundert, wenn dies nicht der Fall gewesen wäre. Sie hatte daher nur seine Hilfe in Fällen erbeten, in denen sie es moralisch für angemessen erachtete, dass man notfalls juristische Gratwanderungen vollführte, um ein besonders verwerfliches Verbrechen aufklären zu können. In ihrem jetzigen Fall ging es nicht um Triebtäter, Frauenhandel oder Drogen. Ein Überschreiten moralischer oder juristischer Grenzen, um den Fall zu beschleunigen, würde ihrem Arbeitsethos widersprechen. Sicherlich, das Programmieren einer besseren Suchmaske wäre alles andere als illegal, doch sie müsste dazu eben einem Menschen Zugriff auf die Festplatte gewähren, dem sie – wären sie nicht seit vielen Jahren befreundet – in jeglichster Form misstrauen würde. Michi war das genaue Gegenteil von ihr. Während sie in der Schule jeden Tag für ihre guten Noten büffeln musste, war ihm alles in den Schoß gefallen. In sämtlichen naturwissenschaftlichen Fächern hatte er eine 1, ohne auch nur ein einziges Mal für eine Klausur gelernt zu haben. In anderen Fächern war es ihm egal, ob er eine 4 oder 5 im Zeugnis stehen hatte, sein Notendurchschnitt reichte dank seiner ausgeprägten mathematischen Ader für eine Versetzung und schließlich zu einem bestandenen Abitur, alles andere war ihm egal gewesen. Schon in der Oberstufe hatte er mit einem Kumpel einen Hacker-Wettbewerb laufen, bei dem sie sich Zugriff auf die damals noch kaum geschützten PCs der Schulleitung verschafft hatten – zumindest hatte er das behauptet. Sie glaubte es ihm aufs Wort, vermutlich war das einer der Gründe, warum in deinem Abitur-Zeugnis in Notendurchschnitt von 2,1 gestanden hatte. Mit einer 1 in Mathe und Physik war das nicht zu erklären, wenn jemand sonst nur unterdurchschnittliche Noten abgeliefert hatte. Seine spätere Entwicklung hatte sie nicht verfolgt, aber sie hatten sporadisch Kontakt gehalten, auch als sie schließlich nach Wiesbaden gezogen war und ihre Arbeit beim BKA begann. Es schien ihr, als hätte er sich seitdem häufiger bei ihr gemeldet, doch das war vielleicht nur Einbildung. Vor einiger Zeit hatte er ihr einen guten Dienst geleistet, als er ihren neuen Laptop so bearbeitet hatte, dass sie sich vor keiner Hacker-Attacke fürchten musste. Egal, wo sie sich damit im Internet einloggte, es war nicht möglich, sich unerlaubten Zugriff auf ihren Computer zu verschaffen. Das war ihr besonders wichtig, weil sie gern ihre Arbeit mit nach hause oder bei schönem Wetter in die nahe ihrer Arbeitsstätte gelegenen Dambachtal Anlagen nahm und dort in der Sonne arbeitete und recherchierte.
Ihre Gedanken schweiften ab, sie blickte aus dem Fenster auf sonnenbeschienene Dächer, es würde ein schöner Tag werden, ein Parktag. Doch sie würde es nicht wagen, mit einer Festplatte voller hochsensibler Daten in einen öffentlichen Park zu gehen und dort zu arbeiten. Vielleicht könnte sie am Nachmittag, wenn die Sonne auf ihren Balkon scheinen würde, nach hause fahren und dort arbeiten. Sie hatte einen Safe in ihrer Wohnung, es sollte unproblematisch sein, die Festplatte dort zu verwahren. Für den Augenblick musste sie ohnehin erst einmal die Frage lösen, wie sie ihre Arbeit anpacken sollte. Michi war keine Lösung, es würde das Ende ihrer Karriere bedeuten, würde auch nur der Verdacht aufkommen, dass sie einem Fremden Zugriff auf die Festplatte ermöglicht hätte. Die hauseigenen Techniker wären kaum in der Lage, innerhalb weniger Tage ein entsprechendes Suchprogramm zu erstellen, meist musste sie eine Woche oder länger warten, wenn sie eine ähnliche Anfrage an die Technikabteilung gestellt hatte. Die Uhren beim BKA gingen langsamer als bei anderen Polizeibehörden. Fälle, die beim BKA bearbeitet wurden, hatten nur selten die Dringlichkeit eines Mord- oder Einbruchdelikts. Eine Verzögerung von ein oder zwei Wochen war kein Problem, man hatte genug Fälle parallel laufen, um die Zeit sinnvoll nutzen zu können.
Schließlich beschloss sie, mit ihrem Chef über die Sache zu sprechen. Vielleicht sah er eine Möglichkeit, wie sie ihre Aufgabe effizient strukturieren könnte. Sie wählte seine Nummer und wartete, während es tutete. Nach fünf Sekunden legte sie auf. Er war entweder beschäftigt oder nicht in seinem Büro. Sie verzog den Mund, überlegte und stand schließlich auf.
„Zeit für einen Kaffee“, sagte sie zu sich selbst und machte sich auf den Weg zum Automaten.
Spiegel-Redaktion, Hamburg, Dienstag 8.41 Uhr
„Junkermann, guten Tag. Spreche ich mit dem zuständigen Leiter der Abteilung für politische Kriminalität?“
„Das ist korrekt, und mit wem spreche ich?“, antwortete eine tiefe, männliche Stimme am andern Ende der Leitung.
„Grit Junkermann, ich recherchiere im Fall der NSA-Dateneinsicht. Können sie mir...“
„Dann wissen sie sicherlich, dass ich ihnen darüber keine Auskunft geben kann, Frau Junkermann“, fiel er ihr ins Wort.
„Sie könnten mir wenigstens sagen, wer der Ansprechpartner für diese Angelegenheit ist und...“
Wieder kam sie nicht dazu, ihren Satz zu beenden.
„Frau Junkermann, ich denke, das Gespräch ist an dieser Stelle beendet.“
Knack. Ihr Gegenüber hatte aufgelegt. Das war das fünfte Gespräch hintereinander, das diesen Verlauf genommen hatte. Bundeskanzleramt, Bundesinnenministerium, LKA Hamburg, BND und nun BKA. Es war deprimierend. Keine Tür wollte sich auch nur einen Spalt breit öffnen, damit sie ihren Fuß dazwischen bekommen könnte. Sie würde an anderer Stelle
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