Название: Status Quo
Автор: Thorsten Reichert
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783847618287
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Spiegel-Redaktion, Hamburg, Montag 18.23 Uhr
Grit Junkermann hatte die meiste Zeit des Tages am Computer verbracht. Obwohl sie als Journalistin bei einem Magazin arbeitete, das immer auf der Höhe des politischen und wirtschaftlichen Geschehens war, entzog sie sich so gut es ging der Nachrichtenflut, las lieber Krimis als Tageszeitungen, schaute lieber Actionmovies als politische Talksendungen oder Abendnachrichten. Das hatte zur Folge, dass sie sich in neue Jobs immer grundlegend einarbeiten musste. Kurioserweise hatte sie gerade dieser vermeintlichen Untugend ihre größten Erfolge zu verdanken. Wo ihre Redaktionskollegen mitunter Fakten als „wahr“ annahmen, weil sie in allen TV-Nachrichten so berichtet worden waren, musste sie sich solche Fakten aus unterschiedlichsten Quellen zusammen suchen und lief somit weniger Gefahr, die Brille der allgemeinen Meinung aufzuhaben. Sie war wie eine Geschworene vor Gericht, die bestenfalls keinerlei Vorkenntnisse von einem Fall hatte, wenn sie im Gerichtssaal die Zeugenaussagen hört. Im Fall des NSA-Abhörskandals war sie natürlich nicht ganz unwissend. Niemand in Deutschland hatte sich in den vergangenen zwölf Monaten dem Thema entziehen können. Und doch wussten die meisten nur oberflächliche Details wie die Tatsache, dass sich die Bundesregierung erst dann ernsthaft mit dem Thema beschäftigte, als sie erfuhren hatten, dass sie selbst zu den Belauschten gehörten. Um das Wesen eines solchen Skandals zu verstehen, musste man viel tiefer ansetzen. Was genau war überhaupt die NSA? Vor zwei Jahren kannten wohl nur die wenigsten Deutschen diese amerikanische Sicherheitsbehörde. FBI und CIA kannte jeder, die kamen ja in jedem zweiten Hollywood-Film vor. Die CIA (Central Intelligence Agency) war das Pendant zum deutschen BND, der zentrale Nachrichtendienst für Auslandsangelegenheiten und Spionage. Neben dem CIA gab es aber jede Menge weiterer Nachrichten- oder Geheimdienste, zum Beispiel die Defense Intelligence Agency (DIA) und ihre Unterorganisationen (zuständig für alles, was mit dem amerikanischen Militär zu tun hatte), das National Reconnaissance Office (NRO), zuständig für die zahlreichen US-Spionagesatelliten, die National Geospatial-Intelligence Agency (NGA), welche sich um Auswertung von Karten- und Bildmaterial kümmerte, und eben die National Security Agency (NSA). Sie war die große Unbekannte, weil sie zwar Unmengen an Geld verschlang, aber niemand genau wusste, was sie damit alles anstellte. Das lag nicht zuletzt daran, dass sie nicht wie die meisten anderen nationalen Einrichtungen einem einzigen Ministerium unterstellt war, sondern neben dem Verteidigungsministerium auch noch unter Aufsicht des Office of the Director of National Intelligence stand, also einer Art Über-Geheimdienstler, der ziemlich viel Macht und erstaunlich viele Freiheiten besaß. Aufgrund des enormen Einflusses, den die NSA durch seine Abhördaten hatte, war sie zudem sehr eng mit dem US-Militär verbunden, was wiederum bedeutete, dass selbst hochrangige Politiker keinen kompletten Überblick über die Arbeit der NSA haben konnten, weil die für militärische Zwecke gesammelten Daten oftmals der militärischen Geheimhaltung unterlagen. Nicht zufällig lag der Hauptsitz der NSA innerhalb des riesigen Militärstützpunktes „Crypto City“ im US-Bundesstaat Maryland. Natürlich besaß die NSA in praktisch jedem Land dieser Welt eine Dependance, in der Regel auch dort innerhalb eines gesicherten US-Stützpunkts. In Deutschland zum Beispiel stand unter anderem auf dem Türschild eines ziemlich großen Gebäudes innerhalb der Patch Barracks in Stuttgart in großen Lettern NSA. Es war kein Geheimnis, dass die Amerikaner nicht nur den internationalen Internet-Datenverkehr, der zu nicht unwesentlichen Teilen ohnehin über amerikanische Server lief, abhörte, sondern dass sie in unserem eigenen Land ihre Richtantennen auf unsere Wohnungen und Regierungsgebäude ausrichteten. Das hatte nur bislang kaum jemanden gestört. Unter dem Eindruck des nationalsozialistischen Regimes hielt es Deutschlands erster Bundeskanzler, Konrad Adenauer, wohl für angebracht, sein Volk und dessen gewählte Vertreter von ausländischen Geheimdiensten zu überwachen, um jegliche faschistische Bewegung bereits im Keim ausmachen und stoppen zu können. Jedenfalls unterzeichnete er eine Erklärung, welche es den Besatzungsmächten auf unbegrenzte Zeit erlaubte, den kompletten Post- und Fernmeldeverkehr absolut legal abzuhören. Offiziell sollte dies in enger Zusammenarbeit mit dem Bundesnachrichtendienst geschehen, aber man konnte sich denken, dass diese Zusammenarbeit bis heute eher einseitiger Natur war. Wenn man seinen Nachbarn abhören wollte, dann lag es nicht nahe, Nachbars Kinder dabei zu beteiligen. Dennoch war die amerikanische Abhörpraxis für deutsche Regierungen – ob konservativ, liberal oder sozialdemokratisch – offenbar lukrativ genug, um sie stillschweigend zu dulden. Erst im Jahr 1989 geriet diese Praxis zumindest ein wenig ins Wanken. Nicht ohne Stolz hatte Grit Junkermann herausgefunden, dass es der Spiegel gewesen war, welcher vor knapp 25 Jahren einen mutigen Artikel druckte, in dem das vermutete Ausmaß der NSA-Aktivitäten in Deutschland benannt wurde. Auslöser war ein Telefonat eines deutschen Industriellen mit einer libyschen Telefonnummer, die auf der Abhörliste der NSA gestanden hatte. Die Agency hörte mit, die Sache wurde publik und die Bundesregierung zeigte sich ungewohnt verschnupft ihren amerikanischen Freunden gegenüber. In dem am 20. Februar 1989 veröffentlichten Spiegel-Artikel „Freund hört mit“ kamen erstaunliche Einblicke in das Abhörwesen von NSA, BND und co zutage. Einblicke, die vielleicht ein ganzes Land hätten erschüttern können, wäre nicht der sich anbahnende Zusammenbruch des Ostblocks das alles überschattende Thema jener Tage gewesen. Die Sensibilität für den Schutz der Privatsphäre war Ende der 80er Jahre noch deutlich niedriger gewesen als jetzt im 21. Jahrhundert. Dennoch konnte die Journalistin kaum fassen, wie gering der Aufschrei damals war, angesichts des explosiven Inhalts jenes Artikels. Wenn sie auch nur ansatzweise einen so konkreten Einblick in die heutige Situation der NSA hätte wie ihr Vorgänger vor 25 Jahren, dann könnte sie einen Artikel schreiben, der in diesem NSA-Skandal die nächste Stufe zünden und ihre journalistische Karriere krönen würde. Doch der Whistleblower Edward Snowden war sämtlichen potentiellen Enthüllungsjournalisten zuvor gekommen, als er von sich aus zahlreiche explosive Details aus dem Alltag seines Ex-Arbeitgebers ausgeplaudert hatte. Wer könnte nun noch Dinge herausfinden, die nicht einmal Snowden wissen konnte und die nach all den immer neuen Skandal-Schlagzeilen der vergangenen Monate noch jemanden hinter dem Ofen vor locken würde. Grit Junkermann musste sich damit abfinden, dass sie nicht die große Enthüllerin sein würde, das war schließlich auch nicht die Aufgabe, welche ihr Chef ihr aufgetragen hatte. Sie sollte lediglich herausfinden, was denn nun in diesen ominösen NSA-Akten drin stand. Dazu hatte sie zunächst noch weitere Hausaufgaben zu erledigen. Ihr Wissen über deutsche und amerikanische Nachrichtendienste war in den vergangenen Stunden zwar exponentiell gewachsen, aber nun galt es, nach den Empfängern der Abhördaten zu fahnden und nach Möglichkeiten zu suchen, an diese Daten heran zu kommen. Sie wusste nur, dass die Daten an das BKA in Wiesbaden gegangen waren. Ob sie von dort weiter ans Kanzleramt, an den BND oder direkt in ein Schweizer Bankschließfach gewandert waren, ob eine hundertköpfige Sonderkommission seit Tagen an der Aufarbeitung der Daten saß und schon eine Klage vor dem Internationalen Gerichtshof vorbereitete – viele Szenarios waren denkbar, in den wenigsten würde sie auf auskunftsfreudige Kooperationspartner hoffen können. Ihre größte Chance waren ihre Wühlmaustaktik und ihr Trüffelschwein-Riecher, die ihr schon bei so mancher Story weiter geholfen hatten, als die meisten ihrer Kollegen schon lange aufgegeben hätten.
Es war ein hoffnungsloses Unterfangen, dem sie sich zu stellen hatte, keine Frage, aber kein unmögliches.
Moselstraße, Frankfurt, Montag 20.16 Uhr
Mike СКАЧАТЬ