Название: Unter Barbaren
Автор: Ralph Ardnassak
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783847617785
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Klatt ist jetzt im Vorraum angekommen. Er sagt laut und höflich „Guten Morgen!“ zu den Seminarteilnehmern des heutigen Tages.
An der Längsseite des Raumes dröhnt der blecherne Automat. Spuckt lärmend hässliche braune Plastikbecher, gefüllt mit Kaffee oder Cappuccino aus. In der Mitte des Raumes: ein Tisch mit Kaffeeflecken und überquellendem Aschenbecher. Rauchwölckchen kringeln sich unter der Decke des Raumes.
Klatts Seminarteilnehmer lehnen neben dem Kaffeeautomaten an den Wänden. Beinahe zwanzig Leute, meist mittleren Alters. Überwiegend Frauen. Müde, gähnend, schwatzend, rauchend, ihre Kaffeebecher in den Händen.
Sie alle haben eines gemeinsam: sie sind Existenzgründer. Klatts Institut ist eines von zweiundzwanzig im Bundesland Sachsen-Anhalt, der Region mit der höchsten Arbeitslosenquote in der Bundesrepublik. Es fehlt der Mittelstand als leistungsfähiger Arbeitgeber in Sachsen-Anhalt. Er fehlt, weil Ulbricht zu Beginn der siebziger Jahre viele private Handwerker zur Verstaatlichung ihrer Betriebe zwang. Von den großen Kombinatsbetrieben der Region blieben seit der Wende nur die Filetstücke übrig. Kein regionaler Mittelstand, der die freigesetzten Arbeitskräfte auffing! Man lebt von Arbeitslosengeld, von Arbeitslosenhilfe, von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, von Umschulungen. Man hofft, auf diese Weise das Rentenalter zu erreichen. Das gesegnete Ziel, das einen vom irren Kopf-an-Kopf-Rennen um einen Arbeitsplatz enthob. Man suchte auf diese Weise das Rentenalter zu erreichen, und schlimmstenfalls lebte man vom Stigma der Sozialhilfe.
Es fehlen Unternehmer, allenthalben. Aber das Risiko der Märkte ist hoch und der Mut sinkt! Sachsen-Anhalt braucht den Mittelstand, um nicht zum Armenhaus Deutschlands zu werden! Sachsen-Anhalt braucht Unternehmer, Freiberufler, Handwerker aller Branchen!
Aber womit bewegt man den Menschen? Mit Geld! Die Europäische Union in Brüssel und die Landesregierung in Magdeburg bezahlen den Mut zur Selbständigkeit! Sie zahlen beinahe dreißigtausend Mark pro Kopf an jeden, der eine tragfähige Geschäftsidee hat und den Mut aufbringt, sich dem Risiko des Marktes auszusetzen!
Aber es gibt viele Unwägbarkeiten unter den Mutigen: Wie finde ich meinen Preis? Wie führe ich ein Verkaufsgespräch? Wie schreibe ich meine Mahnungen? Wie bekomme ich einen Kredit? Wo finde ich Lieferanten?
Eine kaufmännische Qualifizierung muss her, sagt die Landesregierung. Grundkenntnisse müssen vermittelt werden: Betriebswirtschaftslehre, Recht und Rechnungswesen! So schlagen wir zwei Fliegen mit einer Klappe! Wir schaffen Arbeitsplätze für Lehrkräfte und wir koppeln die Auszahlung des Geldes an eine Qualifizierung in kaufmännischen Dingen!
So ist es in Sachsen-Anhalt! Deshalb gibt es Institute, wie dieses hier! Deshalb hat Klatt ein Einkommen, und ein hohes noch dazu!
Sie kommen also, die Willigen, die das Marktrisiko tragen, die Unternehmer werden wollen.
Sie kommen zu den Beiden ins Büro oder zu Klatt. Sie kommen, weil sie das Arbeitsamt schickt, das Sozialamt oder auch einfach irgendein guter Bekannter. Sie kommen, manche mutlos, verschwitzt, oft mit Alkoholfahne. Manche sind am Ende, wissen nicht mehr weiter. Zu alt, zu lange schon ohne Arbeit, überqualifiziert, nicht mehr vermittelbar. Aus beinahe allen Schichten und Berufszweigen kommen sie: ehemalige Offiziere, die die Bundeswehr entließ; abgerissene Sozialhilfeempfänger, zahnlos, zittrig, den Bauch voller Wut und Bier; Studenten, die keine Arbeit finden; mutlose Künstler; gewesene Geschäftsleute, deren Firmen in Konkurs gingen, die an Eides statt ihre Mittellosigkeit beschworen; verarmte Handwerker; politisch nicht mehr tragbare Lehrer; Wolgadeutsche, aber auch erfolgreiche Jungunternehmer.
Sie kommen, auch zu Klatt in das Büro. Und sie sitzen ihm gegenüber, an dem Tisch mit der von Kaffeeflecken verunzierten Decke. Sie sitzen hier, kneten die Hände und schildern Klatt ihr Leben. Sie sitzen und sehen den Silberstreif am Horizont, der Einkommen heißt. Einkommen für ein Jahr oder für anderthalb Jahre. Sie schildern Klatt ihr Leben, denn sie wissen, es ist so einfach, sich in einen Raum zu setzen und zuzuhören. Ein Einkommen, für den Mut zur Selbständigkeit, für das Zuhören! Ein leichtverdientes Einkommen! Zu leicht verdient, schimpft die Verkäuferin im „Kaufland“, die eine Vierzig-Stunden-Woche hat und dafür achthundert Mark netto nach Hause bringt. Das deckt die Miete und die Nebenkosten, Wasser, Heizung und so weiter!
Klatt kennt die Debatte. Er kennt die Vorbehalte. Aber er weiß, ohne die Gelder würde sich kaum jemand in den Dschungel der Selbständigkeit wagen. Und er weiß: er hat ein Einkommen, so lange die Gelder aus Brüssel und aus Magdeburg fließen! Und sie fließen und fließen, Millionen fließen. Sie fließen in den kleinen Friseurladen in der Altstadt, in den Second-Hand-Shop des dicken Herrn unweit der Stadt, in den Laden des jungen Mannes, der mit Militaria handelt, und der Klatt anbot, alles besorgen zu können: die SS-Uniform nebst Zubehör; die besondere Rarität der Uniform eines Offiziers aus Rommels Wüstenkorps; den Ehrendegen, den Himmler an ein handverlesenes Klientel SS-Offiziere verlieh; die komplette Uniform eines NVA-Generals. Sie fließen und fließen, die Gelder aus Brüssel und Magdeburg, ohne die der Gründerboom in Sachsen-Anhalt nicht stattfinden würde, ohne die die Arbeitslosigkeit um ein Vielfaches höher wäre und die Hoffnungslosigkeit größer und die Wut im Bauch. Sie fließen, die Gelder, ohne die auch Klatt ohne Arbeit wäre und verachtet, ein Parasit am Leib seiner Familie!
Sie fließen, die Gelder, noch zwei, vielleicht noch drei Jahre lang! Was danach kommt, weiß niemand! Die Beiden wissen es nicht, Klatt weiß es nicht!
Klatt muss ihnen also Grundkenntnisse vermitteln. Grundkenntnisse der Volks- und Betriebswirtschaftslehre, des Vertriebes, des Handels- und Vertragsrechtes. Seit beinahe zwei Jahren tut Klatt diese Arbeit. Er bemüht sich, sie gut zu machen. Man muss vieles lesen. Man muss informiert sein über dies und jenes. Man muss mit den Menschen reden auf der Straße, um zu wissen, was sie erwarten von dem Produkt im Laden. Mit den Menschen auf der Straße muss man reden und mit den Entscheidungsträgern in den Rathäusern und den Gewerbeämtern. Aber dazu ist keine Zeit! Es ist keine Zeit zum Lesen und zum Reden, denn Klatt muss seine Seminare halten, je mehr, desto besser! Desto besser für das Institut, das sich finanzieren muss! Desto besser für Klatt, der sein Gehalt einspielen muss, damit er bezahlt werden kann! Damit er sein Einkommen behält!
Also bleibt keine Zeit zum Lesen, keine Zeit zum Reden!
Man spult seinen Stoff herunter, wie eine dicke Rolle Garn. Man spult und spult und spult! Und irgendwann einmal ist die Rolle leer gewickelt. Dann ist man am Ende mit seinem Stoff! Dann hat man nichts mehr zu sagen, außer ein paar Plattheiten vielleicht! So sind die Ängste von Klatt beschaffen!
Aber Klatt müht sich redlich. Er hat seinen Stoff aufbereitet, mit Beispielen und Aufgaben und Grafiken, denn es heißt, der Mensch behält nur zwanzig Prozent vom Gehörten, fünfzig Prozent vom Gesehenen, aber beinahe fünfundsiebzig Prozent von dem, was er handelnd nachvollzieht.
Klatt müht sich redlich. Er hat seinen Stoff aufbereitet, auf unzähligen Folien. Er hat ihn im Kopf, seinen Stoff. Hunderte Male hat er ihn entwickelt vor einem Seminar, hat ihn an die Tafel geschrieben, hat ihn vordeklamiert, auf und ab gehend vor dem СКАЧАТЬ