Название: Unter Barbaren
Автор: Ralph Ardnassak
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783847617785
isbn:
Klatt bringt seiner Tochter das Abendessen in ihr Zimmer. Sie sitzt vor dem laufenden Fernseher auf dem Boden, auf ihrem Schafsfell. Ihre Augen leuchten. Klatt stellt die Mahlzeit auf den Schreibtisch und fährt ihr durchs weiche braune Haar. Es ist Haar wie seines, weich und glatt. Dann bringt er Nase und Mund ganz nah an den Kopf seines Kindes. Er nimmt die Fülle des warmen Kinderduftes, den das Haar seiner Tochter verströmt, in sich auf und schließt die Augen. Eine ungeheure Welle der Zärtlichkeit und des Beschützenwollens steigt mit fast schmerzhafter Intensität in Klatt empor, so dass er sich schnell losmacht. Es ist eine der wenigen Gesten der Zärtlichkeit, zu denen Klatt noch fähig ist. Zärtlichkeiten zeigen, heißt Verletzbarkeit zeigen, heißt, eine Blöße offenbaren, in die die Schrock die Dolchspitze setzen konnte: ihr Schweigen! Klatt schließt leise die Tür zum Kinderzimmer. Er weiß, dass es falsch ist. Er weiß, dass er das Kind abspeist, dass er sich wieder in seiner Schwäche und Resignation zurückzieht von seinem Kind und dem Fernseher seinen Part zuschiebt. Er weiß, dass ein Kind die Regelmäßigkeit der Mahlzeiten mit den Eltern, das Gespräch mit ihnen braucht. Aber er kann es nicht mehr. Er hat keine Ruhe mehr in sich, kein bisschen Ausgeglichenheit und Freude ist in ihm, so dass er oft ungerecht wird und launisch. Klatt ist so hilflos. Hilflos steht er der Verarmung des Miteinanders in der Familie gegenüber, einer Familie, die keine ist! Hilflos sieht er die Kontaktarmut mit an, die Verheerungen in seiner Seele und den verletzten Rückzug von jedermann. Aber er kann nichts ändern. Er ist wie ein Mensch mit gebrochenem Rückgrat, schwach, unfähig, selbstbestimmt zu handeln. Und eine Angst erfüllt ihn, Angst, etwas falsch zu machen, bei jeder Entscheidung, die er zu treffen hat. So gewöhnte er es sich ab, zu entscheiden. Er ist eine Marionette, willenlos, schwach. So lässt er die Dinge geschehen, und er nimmt sie hin, wie sich kommen. Dabei hilft ihm das Bier!
Sein Kind isst in seinem Zimmer und sieht fern. Er, Klatt, sitzt im Wohnzimmer, trinkt Bier und sieht fern. Er hat zu viel und zu schnell getrunken, wie jeden Abend. Und er merkt die Betrunkenheit, die sich in ihm breitmacht. Wie eine Welle, die von unten heraufkommt, strömt die Trunkenheit in sein Hirn. Der Druck der Plattenwände des Zimmers weicht für einen Moment, ja, sogar die Angst, die Arbeit zu verlieren und damit das Einkommen und die Familie. Die Angst, vor dem Seminar zu versagen weicht, die Angst vor den Schrocks, alles ist weg, solange der Rausch anhält und alles betäubt. Klatt redet jetzt, im Rausch, mit vielen Freunden. Aber er tut das nur in Gedanken. Er kann kaum noch sagen, was er fühlt und leidet. Er hat scheinbar die Fähigkeit verloren, sich offen und laut zu artikulieren, zu beschreiben, was ihm fehlt, weil niemand ihm zuhört. Jetzt aber, im Rausch, in Gedanken, jetzt aber ist er ein leidenschaftlicher Redner, so wie ganz früher. Ein Redner, über dessen Lippen kein Sterbenswörtlein kommt!
Klatt sitzt schweigend und betrunken vor dem Fernseher. Ein Privatsender ist eingestellt, der Lieblingssender der Schrock, der nicht verstellt werden darf. Klatt, der nie gern fernsah, hat sich daran gewöhnt, das allabendlich die Kiste flimmert. Er hat sich daran gewöhnt, wie an so vieles in den neun Jahren seiner Ehe. Nur an den ätzenden Qualm ihrer beinahe achtzig Zigaretten, die sie Tag für Tag konsumiert, kann sich Klatt nicht gewöhnen. Der Geruch nach kaltem Rauch ist überall: in den Tapeten, den Teppichen, in den Seiten der Bücher im Regal, nachts im Kopfkissen, ja selbst in Klatts Jackett, wenn er morgens vor seinem Seminar steht. Für ihn ist es der Geruch nach Egoismus und Rücksichtslosigkeit!
Klatt sitzt schweigend und betrunken vor dem Fernseher. Irgendeine der ewigen amerikanischen Serien flimmert. Reiche, schöne, gesunde amerikanische Bürgerfamilie mit schmuckem Häuschen im mittleren Westen wird gekidnappt. Schwarzer, einsamer, erfolgreicher Detective, der nur gelegentlich zur Flasche greift, ermittelt. Großkalibrige automatische Pistolen bellen, Patronenhülsen fliegen durch die Nachmittagssonne vor einem Supermarkt, wie Karnevalskonfetti. Polizeisirenen jaulen, Telefone klingeln. Verdeckte Ermittler mit Pumpaction-Guns fuchtelnd, wie die Ritter der Tafelrunde mit ihren Zweihändern, machen schnell ein Ende! Wer war’s? Der intelligente, aber drogenabhängige Sohn des Kindermädchens mit seiner Gang aus gestrauchelten Brutalos. Verhaftung, Verurteilung, Elektrokution! Schönes Märchen vom Sieg des gerechten Tüchtigen!
Klatt ist es gleich, was da im Fernseher läuft. Darin hat er langjährige Übung. Sein Blick ist starr auf das Muster des Teppichs gerichtet. Fast schläft er ein. Aber er darf noch nicht einschlafen. Sein Kind ist jetzt im Bad. Er muss es noch in sein Bett bringen, Zudecken, Gutenachtküsschen. Es beruhigen, weil immer drängender nach der Mama fragt.
Sein Kind ist gewaschen und im Schlafanzug. Klatt bringt es ins Bett. Sein Gang ist schwankend. Er merkt es nicht mehr. Er verspricht seinem Kind, die Mama ins Zimmer zu schicken, wenn sie kommt.
Klatt schließt leise die Tür zum Kinderzimmer. Eine scheinbar heile Märchenwelt bleibt dahinter zurück. Klatt weiß nicht, wo die Schrock ist. Und die lange Übung, Stumpfheit in ihm und das Bier in ihm verhindern jetzt, in diesem Moment, dass er sich Sorgen macht oder sich das Hirn mit Eifersucht zermartert. Er weiß nicht, wo die Schrock ist, er weiß nicht, wann sie kommt, nein, er weiß nicht einmal, ob sie überhaupt kommt! Abwesenheit der Schrock bedeutet Abwesenheit von Kälte und Demütigung! Er weiß sein Kind im Nebenzimmer, er weiß noch zwei Flaschen Pils im Kühlschrank, das macht ihn ruhiger. Weiter denkt er jetzt noch nicht! Es ist nicht gut, zu weit zu denken! zu viele Unwägbarkeiten tauchen dann auf! Zu groß sind Unsicherheit und Angst! Und jetzt, betrunken, ist er stark, da braucht er keinen Menschen! Wenigstens nicht, solange der Rausch anhält! Solange seine Kraftquelle in ihm ist: das Bier!
Es ist jetzt stockdunkel vor den Fenstern. Klatt weiß nicht, wo die Schrock ist. Falls sie kommt, wird er sie nichts fragen, wie immer. Die Fragerei würde sie reizen. Sie würde ihm nicht antworten, weil sie eine Schrock ist und niemandem Rechenschaft schuldet. Ihm, Klatt, schon gar nicht! Das Bier, das gute Bier in ihm, das ihm morgen Sodbrennen und Kopfschmerzen bereiten wird und womöglich zitternde Hände, das Bier also, verhindert, dass diese Bilder in Klatts Kopf kommen. Bilder der Schrock, im Bett eines Kollegen! Bilder, die nicht allein seiner Phantasie oder einer krankhaften Eifersucht entstammen! Aber darüber darf er nicht sprechen! Danach darf Klatt nicht fragen! Also wird er nicht fragen, wie immer! Er wird ja sehen, ob sie kommt, wann sie kommt. Er hofft, dass sie kommt und wünscht zugleich, sie möge fortbleiben! Er hofft, irgendetwas, ein Wunder vielleicht, möge geschehen und dem allen ein Ende setzen. Klatt kann ohne einen Menschen an seiner Seite nicht leben, dazu ist er zu schwach. Aber mit diesem Menschen an seiner Seite wird er zugrunde gehen! Also braucht er das Bier, um zu ertragen und zu schweigen, um auszuharren im Schützengraben. In die Brustwehr gekrallt und nur den einen Gedanken: Überleben! Halten! Aushalten!
Klatt gießt die letzten Tropfen Bier sorgsam in sein Glas. Dann stellt er die leere Flasche in die Küche, zurück in den Kasten unter der Spüle. Leise flackert die Gasflamme im Boiler, der als großer weißer Kasten an der Küchenwand hängt. Der Boiler und das große verchromte Rohr, welches von ihm zum Schornstein führt, sind wie eine große Telefonanlage, durch die man ungewollt Zeuge der Gespräche in den anderen Wohnungen werden kann. Klatt hat sich deshalb bemüht, nicht mit den Bierflaschen zu klimpern. Es braucht hier niemand zu wissen, dass er abends Bier trinkt. Zuviel Arbeitslosigkeit, zu viel Neid und Häme wohnen in den Blocks um die Hochschule. In der Wohnung unter Klatts bellt ein Hund, dann streiten die Hilschers, wie so oft:
„...such Dich endlich Arbeet! Miete, Auto, Fressen: woher soll ich’s noch nehm’?“
„Habe sechzich Bewerbungen jeschrie’m! Was soll noch wer’n mit dreiunfuffzich Lenze? Se` ha’m nischt for mich uf' s Arbeetsamt! Oder soll ich Straße fegen oder Wochenspiegel austrag’n for achthundert netto?! Kriege ja mehr Hilfe!“
„Nischt mehr im Kopp als Schnaps und Videos! Kann ja nischt werden!“
„Bin über achtzehn! Mache, wat ich will...!“
„Aber nich' in meine Wohnung!“
„Meine Wohnung, meine Wohnung!“
„Jawoll, СКАЧАТЬ