Scheinheilung und Patientenerschaffung - Die heillose Kultur - Band 3. Dr. Phil. Monika Eichenauer
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      So starke oder gleichgültige Nerven scheint es generell „Oben“ und in gewählten Politikerreihen zu geben. Man kann sich dann retten mit einer Aussage wie „Das konnten wir ja nicht wissen“ oder „Das konnte keiner wissen“. Derartige Aussagen beziehen sich nicht nur auf Falschberechnungen von Renten, sondern auch auf Entscheidungen, die maßgeblich das Zusammenleben und die Beziehungsfähigkeit von Menschen in unserer Kultur regeln. Die psychosozialen Berufe haben bis heute keinen entscheidenden kulturellen Bedeutungszuwachs im gesamtgesellschaftlichen Kontext errungen – entsprechende Menschen schlecht bezahlt, beruflich abqualifiziert, kritisiert, der Unprofessionalität bezichtigt. Sie werden als letzter Notnagel gesehen, der dann, wenn Gefahr, Not und Leid in Verzug ist, dann aber halten muss – egal wie wenig Personal oder Geld zur Verfügung gestellt wird. Prognostisch wäre hier zu konstatieren, dass die psychosozialen Probleme im Zuge der weiteren Verarmung in der Bevölkerung zunehmen und nicht dadurch abnehmen werden, dass man Statistiken erstellt und lediglich Hiobsbotschaften über Vorgänge der Vernachlässigung verlautbaren lässt – und obendrein denjenigen die Schuld für Missstände zuschiebt, die von Berufswegen damit beschäftigt sind, Missstände abzuschaffen.

      Ich denke, Belege für die Richtigkeit der oben gestifteten psychoanalytischen Zusammenhänge von Alice Miller gibt es in der Geschichte genügend. Die Frage von Philip Reemtsma ist ernst zu nehmen: Wie ist Ekel gegen Grausamkeit und ich möchte ergänzen, Gleichgültigkeit und Ignoranz, zu erzeugen? Ich denke auch, dass die Natur hinreichend zerstört ist, so dass bei jedem Menschen gegenwärtig angekommen sein sollte, dass Wirtschaft und die Industrie so nicht weitermachen können. Kapitalistische Kernschmelze in der Wirtschaft und Polschmelze in der Natur bedürfen keines Beweises mehr – aber einer neuartigen Reflexion. Die bisherigen Werkzeuge zur Begradigung und Korrektur haben versagt. Das allerdings wussten die Wirtschaft und die Naturwissenschaftler schon vor 15 Jahren. Doch man hat offenbar gewartet, bis sich die Schäden in der Gegenwart aufsummieren konnten. Nun will man weitere fünfzig Jahre warten, um vielleicht die Schadstoffe auf die Hälfte zu reduzieren. Nach dem Motto: Vielleicht geht es doch noch gut … Oder besser: So geht es uns doch gut? Das kann allerdings keine ernsthafte gemeinte Frage sein. Denn durch Kriege und weitere Zerstörung von Natur, Mensch und Existenz sind keine guten Ergebnisse erzielbar – höchstens die Sicherung von Rohstoffen, was Hunderttausende das Leben kostet. In Afrika lässt man die Menschen schlicht verhungern. Wie praktisch, könnte man zynisch bemerken, dann muss man nicht so viel vom voraussichtlichen Gewinn teilen, falls es doch mal Gesetze geben sollte, die auch das Volk berücksichtigen. Auch die Zweiklassengesellschaft und die Zweiklassenmedizin werden irreparable Schäden auftürmen, um einen wirtschaftlichen Zweig, der Milliarden Gewinne verspricht, für „Oben“ zu etablieren. Auf der Strecke bleiben Ärzte und Psychologische Psychotherapeuten, Patienten und generell Menschen, die man umwerben wird, ihre Gesundheitsprodukte zu kaufen und diese selbst zu bezahlen. Auf der Strecke bleibt das Leben im Hier und Jetzt – und in der Zukunft.

      Wenn also die fehlende Reflexion ( und Möglichkeit) über die psychischen Vorgänge im Menschen der Garant dafür ist, dass man weiterhin Profite erwirtschaften kann, dann ist sehr leicht nachzuvollziehen, warum generell Psychotherapie und insbesondere Psychologische Psychotherapie politisch und finanziell beschnitten und abgewertet worden sind und warum man immer noch versucht, sie weiterhin klein zu halten: Es besteht kein Interesse an persönlicher wie geschichtlicher Aufarbeitung, die zum Kern, zu den Ursachen vorstößt und wirkliche Erklärungen und Lösungen zum Vorschein bringen könnte statt Augenwischerei. Genauso wenig besteht ein Interesse an Erklärungsansätzen, die verschiedene Faktoren und Tatsachen zu Zusammenhängen zusammenführen möchten – gesellschaftlich sind Mikroprozesse und Systeme favorisiert, die scheinbar unabhängig von anderen arbeiten und existieren. Im Kleinen wie im Großen, ist der Zuwachs von Isolation, Distanz und fehlendes Verständnis von Zusammenhängen gefragt – dann kann alles so bleiben wie es ist. Es geht nicht um den einzelnen Menschen, sondern es geht um den Erhalt eines Systems, das für wenige Menschen lukrativ ist. Zur Unterstützung sei ein kleiner Einblick in die klassische Medizingeschichte eingeflochten.

      Neue Ziele und Strukturen der Medizin?

      Die klassische Medizin hat das Vorhaben, sich um Ursachenklärung zu bemühen, um der wissenschaftlichen Anerkennung Willen aufgegeben – damals, als der Beruf des Arztes von Mönchen auf Bürger oder besser Laien, wie Attali berichtet, also Menschen, die auf keine besondere Ausbildung für ihren Beruf zurückgreifen konnten, überging (vgl. Attali, 1981, S. 109). Zwar beschreibt Attali französische Verhältnisse, aber auch in Deutschland dürfte es Beispiele dieser Art im Entwicklungsprozess der „Medizin“ gegeben haben. Der Sohn lernte und übernahm familiär vom Vater den Beruf des Arztes. Das Zölibat wurde für die neuen Mediziner abgeschafft. Mönche übten den Heilberuf zehn Jahrhunderte aus, bis sich die Klostertore Mitte des 12. Jahrhunderts für den ernsthaften Medizinerberuf schlossen. Die neuen Laien beanspruchten von vornherein das alleinige Recht auf Heilung, mit dem auch heute noch von offiziellen ärztlichen Standesorganisationen geworben wird.

      „In den Fakultäten der großen und den Gelehrtenzirkeln der kleinen Städte beanspruchten Laien im Namen des hippokratischen Wissens für sich allein das Recht, die Krankheiten heilen zu können, obschon ihnen die königliche Macht – die ganz in der Organisation der Polizei aufgeht – niemals ein solches Privileg zuerkannt hat. Ihr Wissen, ihre Diplome, ihre Disziplin, ihre Praxis und ihre Honorare bleiben ganz ihnen überlassen.“ (Attali, 1981, S. 109). Im Wesentlichen sind damit die bis heute wirksamen Strukturen der organisierten Ärzteschaft beschrieben. Die „wissenschaftliche Anerkennung“ wird immer noch als ihr Stempel auf Methoden gedrückt, selbst wenn es nicht die eigenen sind, um sich diese einzuverleiben. Das alleinige Recht auf Heilung wurde auf wissenschaftliche Produkte ausgedehnt und durch eine Druckerlaubnis, die auf jedem medizinischen Werk die „Richtigkeit“ der Lehre, die durch streitende Fakultäten im Sinne Galens und Hippokrates festgelegt wurde, beschränkt. Dies bedeutet, von Anfang an wurde ein alleiniges Zuordnungs- und Zugangsrecht zu Fachgebieten und deren Produktionen in der wissenschaftlichen Medizin verbrieft und gestempelt. Damit wurden alle anderen Heiler oder Mediziner ausgeschaltet.

      „Auf diesem Umweg über das Thema der Macht, wird, vom Ende des achtzehnten Jahrhunderts an, der Körper zum Objekt des Wissens, und die Medizin, die ihn kontrolliert, verzichtet auf ihr Prestige, um die Macht einer Wissenschaft zu erlangen. 1765 unterscheidet die Enzyklopädie zwischen der Medizin, ‚bevor sie die Form einer Wissenschaft hatte’ und ‚seit sie eine Wissenschaft ist’ (...) Zur gleichen Zeit schreibt Doktor Perrot: ‚Der Arzt überlässt Galen seine suspekte Wissenschaft und wird ein guter Architekt. In der Metapher des Körpers als Maschine wird das Leiden zur Unterbrechung, zur Panne und zum Fehler im Hinblick auf die Erfordernisse des Funktionierens. Die Krankheit lässt sich als neutrale, objektive, an und für sich analysierbare Entität verstehen, unabhängig vom Platz des Kranken in der Gesellschaft, und ist daher stets derselben Behandlung zugänglich, welchen Status der betreffende Körper auch haben mag. Das Leiden ist also von dem Körper verschieden, der es erlebt.’“ (Attali, 1981, S. 154 f.)

      Dadurch, dass Laien diesen Beruf des Arztes fortan ausüben konnten, diente die universitäre Ausbildung lediglich dem Erhalt des sozialen Ansehens durch ein „Thronbesteigungsritual, ein Modus“ (vgl. Attali, 1981, S. 110). Demgemäß bestand das Studium lediglich in einem Abfragen, ob der Arzt in der Lage war, einige lateinische und griechische Sätze zu erinnern, die er später vor dem Patienten zu wiederholen in der Lage sein sollte. Ein Arzt des Kaisers Leopold beschreibt die Situation vom 1716 folgendermaßen: „Ohne jede Kenntnis der Philosophie, der Mathematik, Chemie und Anatomie, ohne jemals die Diagnostik, Semiotik, Diätetik und Physiologie studiert zu haben, kann sich jeder daran geben, Arzt zu werden (...), vorausgesetzt, er kann vier Aphorismen des Hippokrates, ein Dutzend Abschnitte von Galen und einige vage andere Zitate irgendeines klassischen Autors auswendig wiedergeben.“ (Ebda, S. 11) Der Arzt Leriche wird sogar gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts schreiben: „Will man die Krankheit bestimmen, muß man sie entmenschlichen.“ (Ebd., S.155)

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