Название: Till Türmer und die Angst vor dem Tod
Автор: Andreas Klaene
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783738062090
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Er zog an den Frauen vorbei und hielt Sarah sein Shampoo wie einen Siegerpokal lächelnd entgegen. Sie winkte ihm in bester Laune zu, und er entschied, diesen Tag als Erfolgstag zu verbuchen. Der Versuchung, einen männlichen Grund für ihren seltsamen Hamstereinkauf zu suchen, widerstand er nach ein paar unangenehmen Überlegungen.
Pelorus Jack
»Mein Bedürfnis sie zu berühren ist immer größer geworden. Ich musste sie einfach anfassen«, las Till in seinen Notizen auf einem Autobahnrastplatz irgendwo zwischen Utrecht und Amersfoort. Er war ohne Frühstück in Den Haag gestartet, so zeitig, dass der niederländische Verkehr noch schlief. Nun brauchte er einen Kaffee. Er hatte an einer Tankstelle Halt gemacht, einen heißen Pappbecher mit drei Fingern über den Parkplatz jongliert und sich bei weit geöffneter Fahrertür ins Auto gesetzt. Der noch kühle Wind dieses Morgens wehte herein und verwirbelte den Dampf, der blass aus dem Becher züngelte.
Beim Autofahren hatte Till an die letzten zwei Tage gedacht und sich gefragt, ob er wirklich genug aus Marjet de Clerck herausbekommen hatte. Die Zeit mit ihr war in mancherlei Hinsicht intensiv gewesen, aber würden seine vielen Eindrücke und Notizen reichen, um daraus ein gutes Porträt schreiben zu können? Unmittelbar nach einer Recherche war Till sich diesbezüglich meistens noch nicht so sicher. Er hatte das Gefühl, in Ruhe einmal überfliegen zu müssen, was er mitgeschrieben hatte, erst dann wusste er, was er von seinen Gesprächen zu halten hatte. In der Regel staunte er anschließend über so manche Gedanken oder Formulierungen seiner Gesprächspartner, deren Wert er im Eifer der Unterhaltungen noch gar nicht erkannt hatte.
Er wollte nicht lange auf diesem Parkplatz bleiben. Sei Plan war es, noch vor Mittag zurück in Aurich zu sein. Er musste es schaffen, rechtzeitig in der Kulturremise anzukommen, dort, wo auch die Biggi aus dem Supermarkt in Pewsum sein wollte, um Sarah zu treffen. Im Veranstaltungskalender hatte er gelesen, dass dort am Vormittag eine Ausstellung zur Geschichte der Multiplen Sklerose eröffnet werden sollte. Er wusste nicht so recht, was er sich unter solch einer Präsentation vorstellen sollte, und schon gar nicht, was Sarah dort zu suchen hatte, aber das interessierte ihn auch gar nicht so sehr. Was zählte, war nur, dass es sich um eine öffentliche Veranstaltung handelte, die also auch er besuchen konnte, und dass er sich sicher war, sie dort zu sehen.
Till nippte an seinem heißen Kaffee, während er noch schnell ein paar Seiten seiner Aufzeichnungen las. Ihm gefiel, was er in Den Haag bei Marjet de Clerck notiert hatte, während sie versuchte, ihm begreiflich zu machen, was eine schöne Form in ihr auslöste: »Natürlich hätte ich sie weiterhin rein visuell erforschen können, aber das reichte mir nicht. So eine Schönheit kann ich doch allein mit den Augen gar nicht genug begreifen.«
Als die kleine Frau mit der mädchenhaften Gestalt vor ihm saß und das sagte, verstand er auf einmal mehr, als sie ihm klarmachen wollte. Er begriff, was sie antrieb, als Malerin und vor allem als Bildhauerin zu arbeiten. Es war ihre geradezu brennende Verliebtheit in manche Formen, Bewegungen und Gestalten.
Plötzlich hatte er das Gefühl, zu durchschauen, warum sie es als Künstlerin zu internationalen Erfolgen gebracht hatte: Wenn sie sich für ein Thema oder Motiv entschieden hatte, brannte sie so sehr dafür, dass sie damit verschmolz.
Was die Künstlerin ihm über ihre Faszination für die körperliche Schönheit von Delfinen erzählt hatte, hätte er über die Schönheit Sarahs sagen können: »Ich musste sie einfach anfassen.« Doch was sie für sich bereits umgesetzt hatte, war für ihn bislang nur ein Traum, allerdings einer, aus dem Realität werden konnte. Diese Botschaft hatte sie ihm, ohne es zu wissen, wie in einer pädagogischen Lektion vermittelt. Ihr Unausgesprochenes hatte ihm zu verstehen gegeben, dass Menschen mit Leidenschaft wie Feuer sind. In ihrer Glut konnten sie ihr komplettes Weltgerüst formen, und ihr Lodern war anziehend wie ein warmer Schein in klirrend kalter Nacht.
Lesend hatte Till einen Film eingeschaltet, der nun vor seinem geistigen Auge abspulte, was in den letzten Tagen geschehen war. Er begann mit einer SMS, die er während seiner Suche in Pewsum erhalten hatte. Als er sie Stunden später nach seiner Begegnung mit Sarah las, wehte der unkonventionelle Charme Hollands zu ihm nach Ostfriesland, und er spürte Lust, ihm zu folgen. »Du kannst gerne schon Mittwochabend kommen. Ich koche uns etwas«, hatte Marjet de Clerck ihm geschrieben.
Im allerersten Moment stutzte er wegen der duzenden Formulierung, schließlich kannte er diese Frau aus lediglich zwei Telefonaten. Aber er begriff ihre Art zu schreiben nicht als plumpe Vertraulichkeit, sondern als gängige holländische Umgangsform, die ihm noch nie Probleme bereitet hatte.
In einer weiteren Sequenz seines Films sah er die Frau in ihrem villenartigen Holzhaus, das auf einem Parkgrundstück unmittelbar vor den Toren Den Haags lag. Wieder einmal hatte sie das ganze Reich für sich allein, weil ihr Mann als Flugkapitän für die nächsten drei Tage unterwegs war. In hellblauen Jeans und einem rot-schwarz karierten Hemd stand sie in ihrem riesigen Wohnzimmer an einem schlichten Holztisch. Etwa zwei Dutzend Fotos ihrer Arbeiten lagen wie aus einem Karton geschüttet darauf verteilt. Sie beugte sich darüber, fischte eins nach dem anderen heraus und erklärte Till, was die Bilder in ihrer Eindimensionalität nicht herüberbringen konnten.
Auch dabei ging es sogleich wieder um jene Meereswesen, für die sie schon als Siebenjährige fasziniertes Staunen empfand. Sie hatte sie durch ihren Vater kennengelernt, der damals als Wissenschaftler im Delfinarium in Harderwijk arbeitete.
Sie zeigte Till Fotos von einer Bronzeskulptur, die zwei Delfine in ihren rasant gleitenden Bewegungen darstellten. Außerdem das von einem Relief, auf dem sie wie aus einer Wand hervorbrachen, so, als würden sie im nächsten Moment den Raum mit ihren Körpern überfluten.
»Wie groß muss man sich diese Arbeiten denn vorstellen?«, fragte er.
»Fast lebensgroß«, sagte sie und schien sich dabei schon auf jedes weitere Staunen zu freuen.
»Und wer hat Platz und Geld für derart raumgreifende Kunst?«
»Ein reicher britischer Fernsehproduzent. – Ein sehr reicher«, fügte sie mit einem stillen Schmunzeln hinzu. Dabei sah sie so aus, als überlegte sie, ob die Sonne ihren Auftraggeber über den Geldberg hinweg tatsächlich noch erreichen konnte.
»Willst du sie sehen?«
»Die Delfine? Aber sicher, sehr gern. Wo denn, hier im Atelier?«
»Nein, bei ihm«, sagte sie, entschuldigte sich für einen kurzen Moment und ging aus dem Raum.
Till konnte hören, wie sie in einem der hinteren Räume telefonierte. Was sie in schneller holländischer Sprache sagte und was nur leise zu ihm herüber drang, verstand er nicht, aber ihre Betonung klang so, als würde sie sich mit jemandem СКАЧАТЬ