›Tai. Weer. Tihsömber.‹«
»Hast du nun eben das getan, was man damals fluchen nannte?« fragte Salaha.
»Ach nein! Das ist Geographie. Und Geschichte war so:
›Willemdaroberer – tausendsechsundsechzig
Willemrufiß – tausendsiebnundachtzig.‹«
»Was hat das bedeutet?«
»Für uns Kinder? Ziemlich dasselbe, was es für euch bedeutet – Kauderwelsch. O die Stunden, diese nicht endenwollenden Stunden der Kindheit in der Schule! Wie endlos lange sie schienen! Habe ich gesagt, ich hätte in meinem Traume ein ganzes Leben durchlebt? In der Schule durchlebte ich Ewigkeiten. Selbstverständlich erfanden wir allerlei, um uns zu unterhalten. Wir zwickten oder pufften zum Beispiel unseren Nachbarn und sagten: ›Gib's weiter.‹ Oder wir spielten verstohlen mit kleinen Kugeln. Es ist komisch, wenn ich bedenke, daß ich nicht durch den Rechenunterricht, sondern durch das verbotene Kugelspiel zählen lernte, addieren, subtrahieren, und so weiter.«
»Aber was leisteten Miß Merrick und der hustende Märtyrer nun eigentlich?« fragte Beryll.
»Ach, sie konnten ja nicht, wie sie wollten. Sie waren in eine Maschine eingespannt. Es gab regelmäßige Inspektionen und Prüfungen, um festzustellen, ob sie sich an die Vorschriften hielten.«
»Der Singsang ›Willemdaroberer‹ und so weiter,« sagte Heliane, »das bedeutete doch etwas? Dem lag doch, wenn auch verborgen, irgendeine vernünftige oder halbwegs vernünftige Idee zugrunde?«
»Wohl möglich«, meinte Sarnac nachdenklich. »Ich habe sie aber nie entdecken können.«
Iris versuchte, ihm zu Hilfe zu kommen. »Du sagtest, es sei Geschichte gewesen ...?«
»Ja, ja«, bestätigte Sarnac. »Ich glaube, die Kinder sollten Interesse am Tun und Treiben der Könige und Königinnen von England gewinnen. Wahrscheinlich war das eine der langweiligsten Reihen von Monarchen, die die Welt je gesehen hat. Interessant wurden sie uns nur zeitweise, wenn sie Gewalttätigkeit an den Tag legten. Es gab da besonders einen Herrscher, den wir gerne mochten, Heinrich VIII. hieß er; der hatte eine derartige Liebesgier in sich und besaß dabei so viel Ehrfurcht vor der Heiligkeit der Ehe, daß er seine Gemahlin jeweils ermordete, bevor er die nächste nahm. Und dann gab es einen gewissen Alfred, der Kuchen backen sollte – ich weiß nicht, warum – und sie anbrennen ließ, was seinen Feinden, den Dänen, auf irgendeine rätselhafte Weise Schaden brachte.«
»Aber das kann doch nicht alles gewesen sein, was man euch an Geschichte lehrte!« rief Heliane.
»Königin Elisabeth von England trug eine Halskrause, und Jakob der Erste von England und Schottland küßte seine Günstlinge.«
»Aber Geschichte!«
Sarnac lachte. »Ja, es ist absonderlich. Nun, da ich wieder wach bin, sehe ich das sehr gut ein. Ihr könnt mir's aber glauben, mehr wurde uns nicht gelehrt.«
»Erzählte man euch nichts über Anfang und Ende des Lebens, nichts über seine unendlichen Freuden und Möglichkeiten?«
Sarnac schüttelte den Kopf.
»In der Schule nicht«, sagte Stella, die offenbar noch gut wußte, was in ihren Lehrbüchern gestanden hatte. »Das geschah in der Kirche. Sarnac vergißt die Kirchen. Ihr müßt bedenken, daß jenes Zeitalter eines intensiver Religiosität war. Es gab allenthalben Stätten der Andacht. Ein ganzer Tag von sieben wurde der Betrachtung des Menschheitsschicksals und dem Studium der göttlichen Absichten gewidmet. Der Arbeiter feierte an diesem Tage. Von einem Ende des Landes bis zum andern war die Luft erfüllt vom Klange der Kirchenglocken und vom Gesang der Gläubigen. Lag darin nicht eine gewisse Schönheit, Sarnac?«
Sarnac lächelte sinnend. »Es war nicht ganz so, wie du sagst. Unsere Geschichtsbücher bedürfen in dieser Hinsicht einer kleinen Revision.«
»Aber man sieht doch zahllose Kirchen und Kapellen auf alten Photographien und kinematographischen Bildern. Auch besitzen wir ja noch eine Menge der damaligen Kathedralen. Manche von ihnen sind recht schön.«
»Sie mußten allesamt gestützt, die Mauern mit Stahlklammern zusammengeheftet werden,« sagte Heliane, »weil sie nachlässig oder gewissenlos erbaut worden waren. Und sie stammen nicht aus Sarnacs Zeit.«
»Mortimer Smiths Zeit«, verbesserte Sarnac. »Sie wurden Jahrhunderte früher erbaut.«
3
»Ihr dürft die Religiosität eines Zeitalters nicht nach seinen Tempeln oder Kirchen beurteilen«, fuhr Sarnac fort. »Ein ungesunder Körper birgt in der Regel mancherlei in sich, was er abzustoßen nicht die Kraft hat; je schwächer er ist, desto weniger vermag er dem Wachstum abnormer und unnützer Gebilde zu steuern, die an sich mitunter ganz schön sind.
Ich will versuchen, euch das religiöse Leben in meiner Heimat und die religiöse Seite meiner Erziehung zu schildern. Es gab in England eine Art Staatskirche, doch hatte diese zu meiner Zeit ihr offizielles Ansehen bei der Gesamtheit des Volkes bereits zum größten Teil eingebüßt. Sie besaß zwei Gotteshäuser in Cherry Gardens; das eine, ältere, stammte aus den Tagen, da der Ort ein Dörfchen gewesen war, es hatte einen viereckigen Turm und war, verglichen mit anderen Kirchen, recht klein; das andere war neuer, geräumiger und mit einem spitzen Turm versehen. Überdies hatten zwei nicht der Staatskirche angehörende christliche Sekten, die Kongregationalisten und die Methodisten, sowie auch die alte römisch-katholische Glaubensgemeinde ihre Kapellen in Cherry Gardens. Jede dieser Kirchen gab vor, die einzig wahre Form des Christentums zu vertreten, und jede unterhielt einen Geistlichen, das größere Gotteshaus der Staatskirche sogar zwei, einen Pfarrer und einen Unterpfarrer. Ihr denkt nun gewiß, daß in diesen Kirchen Ähnliches dargeboten wurde wie in den Geschichtsmuseen und Visionstempeln, die unsere heutige Jugend besucht; ihr denkt, daß dort die Geschichte der Menschheit und das große Abenteuer des Lebens, an dem wir alle teilhaben, so eindrucksvoll und schön als möglich geschildert, daß die Zuhörer an die Bruderschaft aller Menschen gemahnt und aus dem Kreis selbstsüchtiger Gedanken emporgehoben wurden ... Laßt mich euch berichten, was Religion und Kirche für mich bedeuteten.
Der ersten religiösen Unterweisungen, die ich erhielt, entsinne ich mich nicht mehr. Sehr früh lernte ich ein kleines Gebet in Versen auswendig, das mit den Worten anhob:
›Sanfter Jesus, lieb und lind,
Blick auf mich, dein kleines Kind!‹
Ein anderes Gebet, das ich lernte, blieb mir fast völlig unverständlich. Schon die Anfangsworte ›Vater unser – der du – bis in den Himmel –‹ СКАЧАТЬ