Название: Les Misérables / Die Elenden
Автор: Victor Hugo
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783754173206
isbn:
Der Staatsanwalt, der stehen geblieben war, wendete sich jetzt an den Vorsitzenden:
»Herr Vorsitzender, Angesichts der verworrenen, aber schlauen Ableugnungen des Angeklagten, der den wilden Mann spielt, uns aber nicht täuschen wird, beantragen wir, daß die Sträflinge Brevet, Cochepaille und Chenildieu, sowie der Polizei-Inspektor Javert noch einmal in den Saal gerufen und zum letzten Mal befragt werden, ob sie in dem Angeklagten den ehemaligen Zuchthaussträfling Jean Valjean wiedererkennen.«
»Ich mache den Herrn Staatsanwalt darauf aufmerksam, daß der Inspektor Javert gleich nach seiner Vernehmung den Sitzungssaal und überhaupt die Stadt verlassen hat, da seine Berufsgeschäfte seine Anwesenheit in dem Hauptort eines benachbarten Arrondissements nothwendig machten. Wir haben ihn, mit Einwilligung des Herrn Staatsanwalts und des Herrn Vertheidigers dazu ermächtigt.«
»Sehr wohl, Herr Vorsitzender; dann glaube ich in Abwesenheit Herrn Javerts, den Herren Geschworenen seine Aussage wiederholen zu dürfen. Folgendermaßen lauteten seine Worte: »Ich bedarf durchaus keiner moralischen Verdachtgründe noch thatsächlicher Beweise, um die Behauptungen des Angeklagten Lügen zu strafen. Ich erkenne ihn mit Sicherheit. Der Mann heißt nicht Champmathieu, er ist ein sehr bösartiger und gefürchteter, ehemaliger Zuchthaussträfling Namens Jean Valjean. Man hat ihn seiner Zeit nach Verbüßung seiner Strafe nur mit Widerstreben seiner Haft entlassen. Er war wegen qualifizirten Diebstahls zu neunzehn Jahren Zuchthaus verurtheilt. Fünf oder sechs Mal hat er versucht zu entspringen. Abgesehen von der Beraubung des kleinen Gervais und dem Diebstahl im Pierron'schen Garten, habe ich ihn noch im Verdacht, daß er sich im Hause Sr. Bischöflichen Gnaden des verstorbenen Bischofs zu Digne einen Diebstahl hat zu Schulden kommen lassen. Ich habe ihn zur Zeit, wo ich Aufsehergehülfe in Toulon war, oft vor Augen gehabt. Ich wiederhole, daß ich ihn mit Sicherheit erkenne.«
Nach Verlesung dieser bestimmten Erklärung, die auf Publikum und Geschworene lebhaften Eindruck zu machen schien, beschloß der Staatsanwalt seine Rede mit dem Antrage, daß in Ermangelung Javerts, die drei Zeugen Brevet, Chenildieu und Cochepaille noch einmal vernommen werden sollten.
Der Vorsitzende gab dem Gerichtsboten einen Befehl und kurze Zeit darauf öffnete sich die Thür des Zeugenzimmers. Der Gerichtsbote brachte in Begleitung eines Gendarmen den Sträfling Brevet herein.
Brevet trug die in den Centralgefängnissen übliche, schwarzgraue Jacke. Er war ungefähr sechzig Jahre alt und sah zugleich wie ein Geschäftsmann und ein Schurke aus, Eigenschaften, die sich ja manchmal mit einander vertragen. Im Gefängniß, wohin ihn neue Verschuldungen wieder zurückgebracht hatten, war er zum Zimmeraufseher ernannt worden. Er war Einer, dem seine Vorgesetzten nachrühmten, er suche sich nützlich zu machen, und der Geistliche lobte ihn wegen seiner Religiosität. Denn man vergesse nicht, daß sich dies unter der Restauration ereignete.
»Brevet«, begann der Vorsitzende, »Sie sind zu einer entehrenden Strafe verurtheilt und können also keinen Eid schwören.«
Brevet schlug die Augen nieder.
»Indessen kann auch in einem Menschen, den das Gesetz bestraft hat, noch Empfänglichkeit für Ehre und Gerechtigkeit vorhanden sein, wenn Gott in seiner Barmherzigkeit es gestattet. An diese Empfänglichkeit für das Gute wende ich mich in dem jetzigen entscheidungsvollen Augenblick. Sind Sie, wie ich hoffen will, einer solchen Regung noch fähig, so besinnen Sie Sich, ehe Sie antworten, so fassen Sie mit aller Vorsicht jenen Mann, den ein Wort von Ihnen unglücklich machen kann, ins Auge, und versuchen Sie gewissenhaft das Gericht aufzuklären. Auf Ihre Aussage kommt viel an, und Sie können noch immer Ihr Wort zurücknehmen, wenn Sie glauben, Sich geirrt zu haben. – Angeklagter, stehen Sie auf. – Brevet, sehen Sie Sich den Angeklagten an, sammeln Sie Ihre Erinnerungen und sagen Sie uns, ob Sie gewiß und wahrhaftig in diesem Mann Ihren ehemaligen Mitsträfling Jean Valjean wiedererkennen.«
Brevet betrachtete den Angeklagten und wandte sich dann zu dem Gerichtshof.
»Ja, Herr Vorsitzender. Ich habe ihn zuerst erkannt und bleibe bei meiner Aussage. Dieser Mann ist Jean Valjean, der von 1796 bis 1815 im Zuchthaus zu Toulon gesessen hat. Ich bin ein Jahr nach ihm entlassen worden. Jetzt sieht er dumm, wie ein Stück Vieh aus, wahrscheinlich von wegen dem Alter; aber damals war er ein geriebener Bursche. Ich erkenne ihn ganz bestimmt.«
»Setzen Sie Sich!« befahl der Vorsitzende. »Angeklagter, bleiben Sie stehen!«
Jetzt wurde Chenildieu hereingeführt, der, wie seine rothe Jacke und seine grüne Mütze bekundeten, ein zu lebenslänglichem Zuchthaus verurtheilter Verbrecher war. Er verbüßte seine Strafe in Toulon und war behufs seiner Vernehmung nach Arras gebracht worden. Er mochte fünfzig Jahre alt sein, war von kleiner, schwächlicher Statur, lebhaft, voller Runzeln, von gelblicher Gesichtsfarbe, und keck und unruhig in seinem Gebahren. Seine Kameraden hatten ihm den Spitznamen Leugnegott gegeben.
Der Vorsitzende richtete an ihn so ziemlich dieselbe Ansprache, wie an Brevet. Als er ihn erinnerte, daß seine Bestrafung ihn des Rechtes beraube, den Zeugeneid schwören zu dürfen, richtete Chenildieu den Kopf empor und sah das Publikum dreist an. Der Vorsitzende forderte ihn dann auf, seine Gedanken zu sammeln und fragte ihn, ob er wirklich den Angeklagten kenne.
Chenildieu brach in eine laute Lache aus.
»Na ob! Wo werde ich denn nicht! Haben wir doch fünf Jahre lang dieselbe Kette geschleppt. Sage mal, Alterchen, bist Du denn böse auf mich?«
»Setzen Sie Sich!« gebot der Vorsitzende.
Nun führte der Gerichtsbote Cochepaille herein. Auch Dieser war, wie Chenildieu zu lebenslänglichem Zuchthaus verurtheilt und roth gekleidet. Er war ursprünglich ein Bauer aus der Gegend von Lourdes, hatte in den Pyrenäen das Vieh gehütet und war dann unter die Räuber gegangen. Cochepaille war nicht weniger verwildert, als der Angeklagte und sah noch dümmer aus. Er gehörte zu jenen Unglücklichen, die von der Natur als wilde Thiere geschaffen und von der menschlichen Gesellschaft zu Zuchthäuslern vervollkommnet werden.
Der Vorsitzende versuchte mit einer eindringlichen, feierlichen Ansprache Eindruck auf ihn zu machen und fragte ihn, wie die beiden Andern, ob er ohne Bedenken versichern könnte, daß er den Mann da kenne.
»Das ist Jean Valjean! Wir nannten ihn auch noch die Winde, weil er so stark war.«
Nach jeder der drei Aussagen, die augenscheinlich in gutem Glauben abgegeben wurden, war ein Gemurmel durch die Zuhörerschaft gegangen, das dem Angeklagten nichts Gutes weissagte, und das jedes Mal stärker wurde und länger anhielt. Der Angeklagte seinerseits hörte immer mit demselben Erstaunen zu, das die Anklagebehörde als sein hauptsächlichstes Vertheidigungsmittel bezeichnete. Bei der Vernehmung des ersten Zeugen hatte er zwischen den Zähnen gemurmelt: »Na ja, da haben wir's!« Das zweite Mal sagte er etwas lauter und mit einer Art Befriedigung: »Sehr schön!« Zuletzt schrie er: »Famos!«
Jetzt interpellirte ihn der Vorsitzende mit den Worten:
»Angeklagter, Sie haben gehört. Was haben Sie zu erwiedern?«
Er antwortete:
»Ich erwiedre: Famos!«
Im СКАЧАТЬ