Название: Les Misérables / Die Elenden
Автор: Victor Hugo
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783754173206
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Er hatte seit vierundzwanzig Stunden nichts genossen, und war auf den holprigen Wegen empfindlich gerüttelt worden; aber er fühlte jetzt keinen Hunger, keine Müdigkeit, überhaupt nichts.
An der Wand hing in einem schwarzen Rahmen und unter Glas ein alter Brief von Jean Nicolas Pache, Bürgermeister von Paris und Minister, wohl irrthümlich vom 9. Juni des Jahres 2 datirt, worin Pache der Commune das Verzeichniß der bei ihm in Haft gehaltnen Minister und Abgeordneten übersandte. Diesen Brief studierte Madeleine, und wer ihn dabei hätte beobachten können, würde leicht auf den Gedanken gekommen sein, er müsse ihn sehr interessiren, denn Madeleine verwandte kein Auge davon und las ihn zwei bis drei Mal durch. Gleichwohl verstand er nicht, was er las. Er dachte in dem Augenblick an Fantine und Cosette.
In diese Gedanken versunken wandte er sich von dem Briefe ab, und sein Blick fiel auf die Thür, die ihn von dem Sitzungssaal trennte. Er hatte sie so gut wie vergessen. Bei diesem Anblick wurden seine Augen allmählich starr und nahmen einen Ausdruck der Bestürzung – des Entsetzens an. Angstschweiß trat zwischen seinen Haaren hervor und rieselte über seine Schläfen herab.
Einen Augenblick machte er mit Entschiedenheit jene Gebärde, die da bedeutet: Bin ich denn dazu gezwungen? Dann wandte er sich rasch um, sah die Thür, zu der er hereingekommen, ging darauf zu und eilte hinaus. Jetzt war er nicht mehr in dem Schreckenszimmer, sondern draußen, in einem langen schmalen Korridor mit Treppenstufen und Schaltern, wo Laternen ein trübes Licht verbreiteten, demselben, wo er eben hergekommen war. Er athmete auf, lauschte. Kein Geräusch vorn noch hinten. Nun rannte er, als hätte er Verfolger hinter sich.
Als er um mehrere Ecken herumgebogen war, horchte er wieder. Immer noch dieselbe Stille und dasselbe düstere Halbdunkel. Er war außer Athem und schwankte, so daß er sich an die Wand anlehnen mußte. Die Steine waren kalt, der Schweiß auf seiner Stirn eisig, und er richtete sich wieder auf, indem ihn schauderte.
Hier stand er nun, bebend vor Kälte und wohl noch aus einem andern Grunde, und sann nach.
Die ganze Nacht, den ganzen Tag über hatte er so gesonnen, und jetzt hörte er in seinem Innern nur noch eine Stimme, die zu ihm sprach: »Es muß sein!«
So verfloß eine Viertelstunde. Endlich senkte er den Kopf auf die Brust, seufzte qualvoll, ließ die Arme hängen und kehrte um, langsam und überwältigt von seinem Schmerz. Es war, als hätte ihn ein Verfolger auf der Flucht eingeholt und bringe ihn jetzt zurück.
Er ging also nach dem Berathungszimmer zurück. Das Erste, worauf sein Blick fiel, war die glänzende Klinke, die ihm wie ein Unglücksstein in die Augen leuchtete. Er sah sie an, wie ein Lamm in das Auge eines Tigers blickt.
Er konnte die Blicke nicht davon abwenden.
Ab und zu that er einen Schritt und kam näher heran.
Hätte er aufgehorcht, so wäre aus dem Saale nebenan ein verworrenes Gesumme an sein Ohr gedrungen; aber er hörte nicht hin.
Endlich, ohne zu wissen wie, stand er vor der Thür, griff krampfhaft nach der Klinke und öffnete die Thür.
Er befand sich in dem Sitzungssaal.
IX. Ein Ort, wo man sich eine Überzeugung bildet
Madeleine trat vor, machte mechanisch die Thür hinter sich zu und blieb stehen, um in dem Saale Umschau zu halten.
Es war ein großer schwach erleuchteter, bald mit Lärm erfüllter, bald stiller Raum, wo die Gerechtigkeit in ärmlicher und schauriger Majestät mitten unter dem Volke prangte.
An dem einen Ende des Saales, wo er selber stand, zerstreute Richter im abgetragenen Amtskleid, mit dem Abknabbern ihrer Nägel oder mit Schlafen beschäftigt; an dem anderen Ende zerlumpter Pöbel; Advokaten in allen möglichen Stellungen; Soldaten mit ehrlichen und groben Gesichtern dazu; altes fleckiges Getäfel; ein schmutziger Plafond; einige mit gelb gewordener, grüner Sersche überzogene Tische; schmuddlige Thüren; mit Nägeln in dem Getäfel befestigte Lampen, die mehr Rauch, als Helligkeit verbreiteten; auf den Tischen Talglichter in kupfernen Leuchtern; Mangel an Licht, an Zierrath, an Heiterkeit, und darüber waltete die strenge Erhabenheit des von Menschen geschaffenen Gesetzes und der von Gott gewollten Gerechtigkeit.
Niemand beachtete ihn. Alle Augen waren auf einen Punkt gerichtet, eine, an eine kleine Pforte gelehnte Bank, linker Hand von dem Stuhl des Vorsitzenden. Aus dieser Bank, die von mehreren Talglichtern beleuchtet war, saß ein Mann zwischen Gendarmen.
Dieser Mann war »Er.«
Madeleine sah ihn, ohne daß er ihn zu suchen brauchte. Seine Augen richteten sich von selbst dahin, als hätten sie gewußt, wo er saß.
Madeleine glaubte sich selber zu sehen, gealtert, allerdings nicht dasselbe Gesicht, aber dieselbe Haltung und dieselbe Erscheinung, dasselbe starre Haar, derselbe scheue und wilde Ausdruck der Augen, derselbe Kittel; kurz so, wie er damals in Digne umherirrte, mit haßerfülltem Herzen.
Ihn schauderte bei dem Gedanken, daß er wieder so werden könne.
Der Mensch sah aus, als sei er mindestens sechzig Jahre alt. Zudem roh, stumpf, verschüchtert.
Als Madeleine eintrat, waren Alle ausgewichen, ihm Platz zu machen. Der Präsident hatte sich umgewendet, und da er errieth, daß der Ankömmling der Herr Bürgermeister von Montreuil-sur-Mer sei, sich verneigt. Der Staatsanwalt, den öfters Amtsgeschäfte mit ihm zusammenführten, erkannte ihn und verneigte sich gleichfalls. Er beachtete das kaum. War er doch gleichsam von Traumnebeln umsponnen und mit dem Schauspiel vor ihm beschäftigt.
Richter, Gerichtsschreiber, Gendarmen, grausame Zuschauer, das hatte er schon einmal gesehen, ehemals, vor siebenundzwanzig Jahren. Diese Schrecknisse fand er jetzt wieder; sie waren da vor ihm, sie existirten. Nicht eine Arbeit seines Gedächtnisses hatte sie da hingezaubert, es waren wirkliche Gendarmen und Richter, wirkliche Zuschauer, Menschen aus Fleisch und Blut. Damit lebte seine ganze gräßliche Vergangenheit wieder auf; der alte Abgrund gähnte ihm entgegen.
Er schrak zurück, drückte die Augen zu und rief in seinem innersten Herzen: »Nun und nimmermehr!«
Und die Tragik seines Geschicks, die alle seine Gedanken bis zum Wahnsinn verwirrte, fügte es, daß ein anderes Ich von ihm da vor ihm saß! Den Mann auf der Anklagebank nannten Alle Jean Valjean!
Vor seinen Augen führte sein Phantom ein ungeheuerliches Schauspiel auf, das den schrecklichsten Augenblick seines Lebens darstellte.
Alles war hier wieder vertreten, dasselbe Gepränge, dieselbe nächtliche Stunde, fast dieselben Gesichter. Nur daß über dem Präsidenten ein Kruzifix hing, was zur Zeit seiner Verurtheilung nicht der Brauch war. Als sein Urtheil gefällt wurde, war Gott nicht da.
Entsetzt über den Gedanken, daß man ihn sehen könnte, sank er auf einen Stuhl nieder, der hinter ihm stand, und machte sich einen Haufen auf einander geschichteter Cartons, die auf dem Tisch der Richter lagen, zu Nutze, um sein Gesicht zu verstecken. Er konnte jetzt sehen, ohne gesehen zu werden. Allmählich erholte er sich von seinem СКАЧАТЬ