Les Misérables / Die Elenden. Victor Hugo
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Название: Les Misérables / Die Elenden

Автор: Victor Hugo

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9783754173206

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      »Seine Identität ist also festgestellt worden?«

      »Was für eine Identität?« Es handelte sich überhaupt nicht um dergleichen. Die Sache lag sehr einfach. Die Frau hatte ihr Kind umgebracht, der Kindesmord ist nachgewiesen worden, die Geschworenen haben die Frage, ob die That vorsätzlich war, verneint und sie auf Lebenszeit verurtheilt.

      »Also eine Frau?«

      »Ja freilich. Die unverehelichte Limosin. Wovon sprachen Sie eigentlich?«

      »Wenn die Verhandlung aber zu Ende ist, wie kommt es dann, daß noch Licht im Saal ist?«

      »Das betrifft die andre Verhandlung, die vor ungefähr zwei Stunden angefangen hat.«

      »Welche andre Verhandlung?«

      »O, auch ein Fall, der klar genug ist. Da handelt es sich um einen rückfälligen Verbrecher, einen ehemaligen Galeerensklaven, der einen Diebstahl begangen hat. Auf seinen Namen kann ich mich jetzt nicht besinnen. Sieht der Kerl banditenmäßig aus! Den würde ich blos seiner Physiognomie wegen zu Zuchthaus verdonnern.«

      »Verzeihung, kann man wohl in den Saal hineingelangen?«

      »Kaum. Der Andrang ist ein gar zu starker. Aber jetzt ist ein Teil Leute weggegangen. Wenn die Sitzung wieder aufgenommen wird, können Sie es versuchen.«

      »Wo ist der Eingang?«

      »Die große Thür da!«

      Der Rechtsanwalt ging davon. Während der wenigen Augenblicke, die das Gespräch gedauert hatte, waren alle nur möglichen Empfindungen fast zu gleicher Zeit auf den unglücklichen Madeleine eingestürmt. Die Worte des Advokaten hatten ihm abwechselnd wie Eisnadeln und glühendes Eisen das Herz durchbohrt. Als er erfuhr, daß die Sache noch nicht zum Abschluß gediehen war, athmete er auf; aber er hätte nicht angeben können, ob ihm bei dieser Kunde wohl oder wehe um's Herz war.

      Er näherte sich mehreren Gruppen und hörte, was man sich erzählte. Da in dieser Sitzungsperiode sehr viel Prozesse zu erledigen waren, so hatte der Vorsitzende für den heutigen Tag zwei einfache Fälle angesetzt. Mit dem Kindsmord hatte man angefangen und jetzt beschäftigte man sich mit dem Rückfälligen. Der Mann sollte Aepfel gestohlen haben; aber für diese Beschuldigung waren keine ausreichenden Beweise erbracht; nur das war jetzt festgestellt, daß er schon im Zuchthause zu Toulon gesessen hatte. Das verschlimmerte seine Sache. Uebrigens war das Verhör des Angeklagten und die Vernehmung der Zeugen beendigt; aber die Rede des Vertheidigers und des Staatsanwalts mußte noch gehört werden; vor Mitternacht konnte die Sache nicht vorbei sein. Der Kerl wurde ganz gewiß verurtheilt; denn der Staatsanwalt war ein schneidiger Mann, dem die Angeklagten nicht so leicht entschlüpften. Ein gescheidter Mann, der dichtete!

      Madeleine fragte den Gerichtsboten, der vor der Eingangsthür des Schwurgerichtssaales stand:

      »Wird die Thür bald aufgemacht?«

      »Sie wird überhaupt nicht aufgemacht werden.«

      »Wie! Sie wird nicht aufgemacht, wenn die Verhandlung beginnt? Sie ist doch jetzt unterbrochen?«

      »Die Verhandlung hat schon wieder angefangen, aber die Thür wird nicht wieder aufgemacht.«

      »Warum?«

      »Weil der Saal schon überfüllt ist.«

      »Was? Kein Platz mehr?«

      »Kein einziger. Die Thür ist zu. Es darf Niemand mehr hinein.«

      Nach einer Pause fügte er hinzu: »Zwei oder drei Plätze hinter dem Herrn Vorsitzenden sind wohl noch frei, aber die vergiebt der Herr Vorsitzende nur an hohe Beamte.«

      Mit diesen Worten drehte ihm der Gerichtsbote den Rücken zu.

      Madeleine ging mit gesenktem Haupte davon, durch das Vorzimmer hindurch und die Treppe hinunter mit langsamen Schritten, als zaudere er. Offenbar pflog er Rath mit sich selber. Der heftige Kampf, der seit dem Tage vorher in seinem Innern tobte, war noch nicht zu Ende und nahm in jedem Augenblick nur eine neue Form an. Als er auf dem Treppenabsatz angelangt war, lehnte er sich an das Geländer und kreuzte die Arme über die Brust. Plötzlich knöpfte er seinen Rock auf, zog sein Portefeuille hervor, entnahm ihm einen Bleistift, riß ein Blatt ab und schrieb bei dem Licht der Laterne: Madeleine, Bürgermeister von Montreuil-sur-Mer. Dann stieg er eilig die Treppe wieder hinauf, drängte sich durch das Publikum an den Gerichtsboten heran und sagte mit gebieterischem Ton: »Ueberbringen Sie diesen Zettel dem Herrn Vorsitzenden.«

      Der Gerichtsbote nahm den Zettel in Empfang, warf einen Blick darauf und gehorchte.

      VIII. Eine Vergünstigung

      Der Bürgermeister war, ohne daß er eine rechte Ahnung davon hatte, eine Art Berühmtheit. Nachdem die ganze Gegend um Boulogne seines Lobes voll geworden, verbreitete sich der Ruf seiner Tüchtigkeit und Herzensgüte auch über die drei oder vier angrenzenden Departements. Abgesehen von dem großen Verdienst, daß er in dem Hauptorte seiner Gegend die Glasindustrie in Flor gebracht hatte, gab es unter den hunderteinundvierzig Kommunen des Arrondissements Montreuil-sur-Mer nicht eine, die ihm nicht irgend eine Wohlthat verdankte. So hatte er seiner Zeit mit seinem Kredit und seinem Kapital die Tüllfabrik in Boulogne, die Flachsspinnerei zu Frévent und die hydraulische Leinwandfabrik in Boubers-sur-Canche gehalten. Ueberall sprach man den Namen des Herrn Madeleine mit Hochachtung aus. Arras und Douais beneideten das glückliche kleine Montreuil-sur-Mer um seinen Bürgermeister.

      Der Gerichtsrath, der während dieser Sitzungsperiode in Arras den Vorsitz führte, kannte wie jeder Andere den Namen des so hoch und so allgemein verehrten Mannes. Als daher der Gerichtsbote leise die Thür öffnete, sich von hinten über den Stuhl des Vorsitzenden beugte und ihm den erwähnten Zettel überreichte, mit den Worten: »Der Herr wünscht der Sitzung beiwohnen zu dürfen«, nickte der Vorsitzende lebhaft und mit einem Ausdruck der Hochachtung, ergriff eine Feder, schrieb einige Worte auf den Zettel und übergab ihn dem Gerichtsboten mit der Weisung: »Ersuchen Sie den Herrn Bürgermeister näher zu treten.«

      Der Unglückliche, dessen Geschichte wir erzählen, war mittlerweile an derselben Stelle und in derselben Haltung stehen geblieben. Da wurde er aus seinen Gedanken durch eine Stimme geweckt, die zu ihm sagte: »Wollen der Herr Bürgermeister mir die Ehre erweisen und mir folgen?« Es war derselbe Gerichtsbote, der ihm kurz zuvor den Rücken zugedreht und der sich jetzt bis zur Erde verneigte, indem er ihm den Zettel überreichte. Madeleine faltete ihn auseinander und las bei dem Schein der Lampe, in deren Nähe er gerade stand, die Worte: »Der Vorsitzende des Schwurgerichts heißt den Herrn Bürgermeister mit ergebender Hochachtung willkommen.«

      Er zerknitterte das Papier in seiner Hand, als enthielten diese Worte für ihn einen herben, unangenehmen Sinn.

      Dann folgte er dem Gerichtsboten.

      Ein paar Minuten nachher stand er allein in einem von zwei Kerzen erleuchteten, mit Tafelwerk verkleideten Kabinett von strengem Aussehen. Noch klangen ihm die Worte des Gerichtsboten in den Ohren: »Der Herr Bürgermeister befinden Sich im Berathungszimmer. Sie brauchen blos die Thür da aufzuklinken, so befinden Sie Sich in dem Sitzungssaal hinter dem Stuhl des Herrn Vorsitzenden.« Mit diesen Worten vermischte sich noch eine unklare Erinnerung an enge Treppen und dunkele Korridore, durch die er so eben hindurchgekommen.

      Der Gerichtsbote hatte ihn also allein gelassen, und der Augenblick СКАЧАТЬ