Les Misérables / Die Elenden. Victor Hugo
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Читать онлайн книгу Les Misérables / Die Elenden - Victor Hugo страница 64

Название: Les Misérables / Die Elenden

Автор: Victor Hugo

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

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isbn: 9783754173206

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      »Sehen Sie nicht, Sergeant, daß die Dirne davon geht? Wer hat Sie geheißen, sie gehen zu lassen?«

      »Ich!« sagte Madeleine.

      Als sie Javerts Stimme hörte, fuhr Fantine vor Schreck zusammen und ließ die Klinke fahren, wie ein Dieb, der auf der That ertappt wird. Als dann Madeleine antwortete, wandte sie sich nach ihm hin, und von diesem Augenblick an richteten sich ihre Blicke, ohne daß sie einen Laut dabei hören ließ, ohne daß sie auch nur frei zu athmen wagte, abwechselnd auf Madeleine und auf Javert, je nachdem Dieser oder Jener sprach.

      Selbstredend mußte Javert, wie man sagt, ganz und gar aus dem Häuschen gerathen sein; sonst hätte er sich nicht erlaubt, den Sergeanten so anzuherrschen, nachdem der Bürgermeister angeordnet hatte, daß Fantine aus der Haft entlassen werden solle. War er so verwirrt, daß er die Anwesenheit des Herrn Bürgermeisters vergessen hatte? Erachtete er es jetzt für unmöglich, daß ein Mitglied der hohen Obrigkeit einen derartigen Befehl ertheilt hätte? Der Herr Bürgermeister hatte ganz gewiß etwas Andres gesagt, als er eigentlich wollte? Oder sagte er sich Angesichts der unsinnigen Vorgänge, denen er seit zwei Stunden beiwohnte, daß er einen großen Entschluß fassen, daß der kleine Beamte die Rolle des höheren übernehmen, der Spitzel sich in einen Richter verwandeln müsse, und daß in der vorliegenden Nothlage die Ordnung, das Gesetz, die Moral, die Regierung die ganze Gesellschaft sich in ihm, Javert, personifizirten?

      Wie dem auch sei, als Madeleine das Wort »Ich!« ausgesprochen, wandte sich der Polizeiinspektor Javert, mit blassem, kaltem Gesicht, mit einem verzweifelten Blick, an allen Gliedern leise zitternd, an den Herrn Bürgermeister und wagte, was er noch nie gethan, ihm, einem Vorgesetzten, zu widersprechen. Gesenkten Hauptes, aber mit fester Stimme sagte er:

      »Herr Bürgermeister, das geht nicht an!«

      »Wieso?« fragte Madeleine.

      »Dieses Frauenzimmer hat einen Mann von Stande insultiert.«

      »Inspektor Javert,« erwiderte Madeleine in ruhigem und versöhnlichem Tone, »hören Sie, was ich zu sagen habe. Sie sind ein wackrer Mann, und ich nehme keinen Anstand, mich Ihnen gegenüber zu einer Erklärung herbeizulassen. Der Thatbestand ist folgender. Ich ging vorbei, als Sie die Frau eben verhaftet hatten, und erkundete mich bei Leuten, die auf dem Platz zurückgeblieben waren. Der andere Theil, der Herr, hat angefangen und hätte von der Polizei arretiert werden sollen.«

      Javert entgegnete:

      »Die Elende hat den Herrn Bürgermeister insultiert.«

      »Das ist meine Sache. Ein mir angethaner Schimpf gehört doch wohl mir. Ich darf damit anfangen, was mir beliebt.«

      »Ich bitte den Herrn Bürgermeister um Entschuldigung, die Beleidigung geht nicht ihn an, sondern die Gerechtigkeit.«

      »Inspektor Javert,« antwortete Madelaine, »die oberste Gerechtigkeit ist Sache des Gewissens. Ich habe die Frau angehört und weiß, was ich thue.«

      »Und ich, Herr Bürgermeister, weiß nicht, was das Alles bedeuten soll.«

      »Sehr wohl, dann gehorchen Sie.«

      »Ich gehorche meiner Pflicht, und die verlangt, daß die Dirne da sechs Monat Gefängniß bekommt.«

      Madeleine antwortete mit sanftmüthiger Ruhe:

      »Merken Sie sich, Javert, sie bekommt nicht einen Tag.«

      Als dieser Entscheid gefallen war, unterfing sich Javert, den Bürgermeister fest anzusehen, und ihm – allerdings mit aller Ehrerbietung im Tone – zu erwiedern:

      »Zu meiner größten Verzweiflung sehe ich mich genöthigt, Einspruch zu erheben. Es ist das erste Mal in meinem Leben, aber der Herr Bürgermeister werden mir gütigst gestatten zu bemerken, daß ich mich innerhalb der Grenzen meiner Befugnisse befinde. Ich halte mich auch, wie der Herr Bürgermeister es wünschen, an den Thatbestand. Ich war zugegen und habe gesehen, daß diese Dirne den Herrn Bamatabois thätlich insultirt hat, Herrn Bamatabois, einen Wähler und Besitzer des schönen, dreistöckigen Hauses aus Quadersteinen und mit einem Balkon, das an der Ecke der Esplanade steht! – Was doch nicht Alles auf der Welt passirt! Wie dein aber auch sei, Herr Bürgermeister, der Vorfall geht die Straßenpolizei, also mich an, und ich behalte die Frau in Haft.«

      Da verschränkte Madeleine die Arme und entgegnete in einem strengen Tone, den bisher noch Niemand von ihm gehört hatte:

      »Der Vorfall geht die Gemeindepolizei an. Laut Paragraph 9, 11, 15 und 66 der Kriminalgerichtsordnung habe ich darüber zu entscheiden, und ich ordne an, daß die Frau ihrer Haft entlassen wird.«

      Javert machte aber noch einen letzten Versuch seinen Willen durchzusetzen.

      »Aber Herr Bürgermeister ...«

      »Ich erinnere Sie an § 81 des Gesetzes vom 13. Dezember 1799 über willkürliche Inhaftirungen.«

      »Gestatten Sie, Herr Bürgermeister ...«

      »Kein Wort mehr!«

      »Indessen ...«

      »Hinaus!«

      Javert empfing den Schlag aufrecht, von vorn und mitten in die Brust, wie ein russischer Soldat. Er verneigte sich tief und ging.

      Fantine trat bei Seite um ihn vorbeizulassen, und sah ihn mit grenzenlosem Erstaunen an.

      Auch sie war außer aller Fassung. Zwei einander feindliche Gewalten hatten sich um sie gestritten. Zwei Männer, die ihre Freiheit, ihr Leben, ihr Kind in ihrer Hand hielten, hatten gegeneinander gekämpft, der Eine, um sie in die Finsternis des Verderbens zu stürzen, der Andre, um sie dem Lichte zuzuführen. Während dieses Kampfes, den die Furcht ihr noch gewaltiger erscheinen ließ, hatten die beiden Männer etwas Übermenschliches für sie angenommen; der Eine war ein Dämon gewesen, der Andre erschien ihr ein Engel des Guten zu sein. Der Engel hatte den Dämon überwunden, und sie erbebte vom Kopf bis zu den Füßen bei dem Gedanken, daß sie gerade ihn, ihren Befreier haßte, den Bürgermeister, den sie seit langer Zeit als den Urheber ihres Unglücks betrachtet hatte, den Madeleine! Der hatte sie, gerade als sie ihn so abscheulich insultirte, gerettet. War sie denn in einem Irrthum befangen? Sollte sie mit ihrer ganzen Denkweise eine Aenderung vornehmen? Sie begriff das Alles nicht und zitterte. In sinnloser Geistesverwirrung stand sie da und bei jedem Wort, das Madeleine sprach, fühlte sie, wie die gräßliche Finsterniß des Hasses sich auflöste, und in ihr Herz wieder Freude, Hoffnung und Liebe einzogen.

      Nachdem Javert hinausgegangen war, wendete sich Madeleine nach ihr hin und sprach mit langsamer Stimme, wie Einer, der seine Thränen unterdrückt:

      »Ich habe Alles gehört. Ich wußte nichts von alle dem, was Sie erzählt haben. Ich glaube, ich fühle, daß es wahr ist. Mir war sogar unbekannt, daß Sie aus meiner Fabrik entlassen waren. Warum haben Sie Sich nicht an mich gewendet? Aber lassen wir das. Ich werde Ihre Schulden bezahlen und Ihre Kleine kommen lassen, oder Sie können zu ihr gehen. Bleiben Sie hier, oder gehen Sie nach Paris oder wo Sie sonst hin wollen. Die Sorge für Ihren und Ihres Kindes Unterhalt übernehme ich. Sie brauchen nicht mehr zu arbeiten, wenn Sie nicht wollen. Alles Geld, das Sie brauchen, bekommen Sie in Zukunft von mir. Sie werden wieder brav und gut werden, wenn sich Ihnen das Glück wieder zuwendet. Und um es gleich jetzt zu sagen, – wenn Alles sich so verhält, wie Sie behaupten, und ich zweifle nicht im Geringsten daran, – Sie haben nie aufgehört tugendhaft und Gott angenehm zu sein. Sie arme Frau!«

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