Название: Les Misérables / Die Elenden
Автор: Victor Hugo
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783754173206
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Damals lagen die südamerikanischen Republiken, die sich unabhängig machen wollten, im Kampfe gegen den König von Spanien. Hie Bolivar! Hie Morillo! Die Royalisten kennzeichneten sich demgemäß durch schmalkrämpige Hüte oder Morillos; die Freiheitsfreunde dagegen prangten in breitkrämpigen oder Bolivars.
Acht bis zehn Monate also nach den weiter oben erzählten Ereignissen, in den ersten Tagen des Januar 1823, an einem Abend, wo es geschneit hatte, leistete sich ein Gigerl, ein Müßiggänger, ein »Gutgesinnter« mit einem Morillo und einem großen Mantel das Vergnügen, ein Frauenzimmer zu foppen, das, in einem dekolletirten Ballkleid und mit Blumen in den Haaren, sich vor dem Café der Offiziere herumtrieb. Selbstredend rauchte unser Gigerl, denn diese Mode griff damals stark um sich.
Jedesmal, wenn das Frauenzimmer an ihm vorbeikam, blies das Gigerl eine Rauchwolke aus seiner Cigarre nach ihr hin und uzte sie mit Reden, die ihm geistreich und lustig vorkamen: »Nein, bist Du häßlich!« »Du hast ja keine Zähne!« u.s.w. Der Herr hieß Bamatabois. Das Opfer seiner Bosheit tappte über den Schnee hin und her, antwortete ihm nicht, sah ihn nicht einmal an, und vollzog stillschweigend, mit schauerlicher Regelmäßigkeit ihren Spaziergang, der sie alle fünf Minuten unter das Witzfeuer ihres Feindes führte, wie ein Soldat, der Spießruthen läuft. Die Wirkungslosigkeit seiner Spähe verdroß den Müßiggänger. Er benutzte einen Augenblick, wo sie ihm den Rücken zuwendete, schlich ihr nach, indem er seine Heiterkeit unterdrückte, bückte sich, hob eine Handvoll Schnee auf und steckte ihn ihr rasch zwischen die nackten Schultern in das Kleid hinein. Die Dirne stieß ein Wuthgeschrei aus, wandte sich um und stürzte sich wie ein Panther auf ihren Gegner, bearbeitete sein Gesicht mit ihren Nägeln und überhäufte ihn mit den gemeinsten Schimpfworten. Jetzt, wo sie ihren nach Schnaps riechenden Mund aufthat, konnte man auch sehen, daß ihr allerdings zwei Oberzähne fehlten. Es war die unglückliche Fantine.
Der Lärm lockte die Offiziere aus dem Café, die Vorübergehenden blieben stehen, und bald weidete sich eine Menschenmenge an dem widerwärtigen Schauspiel, applaudirte und hetzte nach Herzenslust.
Plötzlich trat raschen Schrittes ein Mann von hoher Statur aus dem Zuschauerkreise heraus, packte die Dirne an ihrem mit Koth befleckten Mieder und sagte: »Komm mal mit!«
Sie sah empor; ihr Wuthgekreisch verstummte im Nu. Ihre Augen blickten starr, sie wurde leichenblaß und bebte vor Schrecken. Sie wußte, daß sie Javert vor sich hatte.
Das Gigerl aber hatte sofort den Zwischenfall benutzt, um sich aus dem Staube zu machen.
XIII. Ueber gewisse Polizeireglements
Javert drängte die Zuschauer bei Seite und ging mit raschen Schritten auf das Polizeibureau zu, das sich an dem Ende des Platzes befand, indem er die Unglückliche hinter sich her zog. Sie folgte ihm maschinenmäßig. Keines von Beiden sprach ein Wort. Ein großer Menschenschwarm, den das Schauspiel höchlichst amüsierte, marschirte mit und riß Witze über die Unglückliche.
Vor den Polizeibureaus angelangt, ging Javert hinein, schob Fantine in die niedrige Stube und machte die vergitterte Thür hinter sich zu, zum großen Aerger der Maulaffen, die sich vergeblich auf die Zehenspitzen stellten, den Hals reckten, ihre Augen anstrengten, um durch die Glasscheibe der Thür einen Blick in das Innere des Bureaus zu werfen. Die Neugierde ist ja die Feinschmeckerei der Augen.
Nachdem sie eingetreten waren, fiel Fantine in einer Ecke nieder und blieb da wie ein Hund, regungslos und stumm, liegen.
Der Sergeant des Postens brachte ein angezündetes Talglicht und stellte es auf den Tisch. Javert setzte sich, zog ein Blatt Stempelpapier aus der Tasche und schrieb.
Diese Klasse Frauen ist kraft unsrer Gesetze ganz und gar dem Belieben der Polizei anheimgegeben. Sie thut mit ihnen, was sie will, bestraft sie nach ihrem Gutdünken und konfiszirt willkürlich, die traurigen beiden Rechte, die sie ihr Gewerbe und ihre Freiheit nennen. Diese richterliche Machtvollkommenheit übte jetzt Javert aus. Er saß ruhig da; sein ernstes Gesicht verriet keine Aufregung. Gleichwohl war sein Geist von einer gewichtigen Aufgabe vollauf in Anspruch genommen. Er war sich bewußt, daß er ebenso gerecht, wie streng verfahren müsse, daß der ärmliche Schemel, auf dem er saß, ein Richterstuhl war. Er hatte in seinem Innern einen Prozeß zu verhandeln, und ein Urtheil zu sprechen. Deshalb bot er nun auch alle Ideen, die er überhaupt besaß, auf, um seiner schwierigen Pflicht gerecht zu werden. Je eingehender er aber die vorliegende Sache prüfte, desto mehr sittliche Empörung erfaßte ihn. Es war geradezu ein Verbrechen, was dieses Frauenzimmer da begangen hatte. So eben war die Gesellschaft in der Person eines Grundbesitzers und Wählers auf öffentlicher Straße beschimpft und thätlich angegriffen worden von einem Frauenzimmer, die außerhalb der Gesetze und der Welt stand. Eine feile Dirne hatte sich eines Attentats gegen ein Mitglied der höhern Stände erfrecht. Das hatte er, Javert, mit eignen Augen gesehen.
Als er mit Schreiben fertig war, faltete er das Papier zusammen und übergab es dem Sergeanten mit den Worten: »Nehmen Sie drei Mann und bringen Sie die da ins Loch.« Und zu Fantine gewendet: »Du hast sechs Monate abzusitzen.«
Die Unglückliche erschrack.
»Sechs Monat! Sechs Monat Gefängnis, wo ich täglich blos sieben Sous verdiene! Was soll dann aus meiner Cosette werden? Meine arme Tochter! Herr Inspektor, ich bin den Thénardiers noch hundert Franken schuldig!«
Dann kroch sie auf den Knieen über den, von den kothigen Stiefeln der Schutzleute beschmutzten Steinboden hin, faltete die Hände und flehte:
»Gnade, Herr Javert! Ich versichre Sie, ich habe keine Schuld. Wären Sie zu Anfang dabeigewesen, so würden Sie Sich davon überzeugt haben. Ich schwöre Ihnen bei unserm lieben Herrgott, daß ich keine Schuld habe. Der Herr, den ich nicht kenne, hat mir Schnee in den Rücken gesteckt. Hat man das Recht, uns Schnee in den Rücken zu stecken, wenn wir ruhig auf der Straße an den Leuten vorübergehn und ihnen nichts thun! Da hat mich die Wut von Sinnen gebracht. Ich bin nämlich krank, Herr Inspektor. Und vorher hatte er mich schon eine ganze Weile geschimpft: »Du bist häßlich! Du hast keine Zähne!« Ich weiß recht gut, daß ich keine habe. Ich that nichts. Ich dachte, der Herr will sich einen Witz machen, verhielt mich anständig und sagte nichts. Da hat er mir Schnee in den Rücken gesteckt. Herr Inspektor! Gütiger Herr Inspektor! Ist denn Niemand da, der zugegen gewesen ist und sagen kann, ob es sich nicht wirklich so verhält, wie ich sage? Es war vielleicht unrecht von mir, daß ich wüthend geworden bin. Aber in dem ersten Augenblick kann man sich ja nicht beherrschen. Man läßt sich fortreißen. Und dann so was Kaltes am Leibe, wenn man sich's garnicht versieht. Es war nicht in der Ordnung, daß ich dem Herrn seinen Hut ruiniert habe. Warum ist er fortgegangen? Ich hätte ihn ja um Verzeihung gebeten. Du mein Gott, es käme mir darauf nicht an. Erlassen Sie mir die Strafe nur dieses einzige Mal, Herr Javert. Sie wissen's nicht, aber im Gefängnis verdient man nur sieben Sous den Tag; die Regierung hat keine Schuld, aber man verdient nur sieben Sous, und ich soll hundert Franken bezahlen, sonst schicken sie mir meine Tochter zurück. Und ich kann ja doch nicht das Kind um mich haben. Ich kann sie ja doch nicht mit ansehen lassen, was für ein abscheuliches Leben ich führe. Was soll denn aus meiner armen Cosette werden? Das süße Engelskind wird mir wie ein verlassenes Schäfchen in der Welt herumlaufen. Denn, sehen Sie, die Thénardiers, das sind Gastwirthe auf dem Lande, Bauern: Die haben kein Einsehen. Die wollen Geld haben. Stecken Sie mich nicht ins Gefängniß. Die sind im Stande und schmeißen das kleine Wesen auf die Straße: Nun geh, wo Du hingehen kannst. Mitten im Winter. Da müssen Sie Erbarmen haben, lieber, guter Javert. Wenn das größer wäre, könnte es ja arbeiten und sein Brod verdienen, aber so geht's ja nicht. Ich bin kein schlechtes Frauenzimmer von Natur. Nicht Trägheit und Leckermäuligkeit haben mich zu dem gemacht, was ich jetzt bin. Branntwein habe ich freilich getrunken, aber da ist das Elend dran schuld. Ich mag ihn nicht, aber er betäubt. Als es mir besser ging, da hätte man in meinem Kleiderschrank СКАЧАТЬ