Название: Die schönsten Sagen des klassischen Altertums - Zweiter Teil
Автор: Gustav Schwab
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783742772916
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Entführung der Fürstin Helena angetan hat, wir, bevor wir die Waffen gegen euch erhoben, zur
gütlichen Beilegung dieses Handels eine friedliche Gesandtschaft an euch geschickt haben. Erst als
dies vergebens war, ist der Krieg, und zwar noch dazu durch einen Überfall von eurer Seite,
begonnen worden. Auch jetzt, nachdem ihr unsern Arm gefühlt habt und alle euch unterworfene
oder mit euch verbündete Städte ringsumher in Trümmern liegen, ihr selbst aber nach vieljähriger
Belagerung in mannigfaltige Not geraten seid, liegt ein glücklicher Ausgang unseres Streites immer
noch in eurer Hand, ihr Trojaner! Gebet uns heraus, was ihr uns geraubt habt, und auf der Stelle
brechen wir unsre Lagerhütten ab, steigen zu Schiffe, lichten die Anker und verlassen mit der
furchtbaren Flotte, die euch so vielen Schaden getan hat, euren Strand für immer. Auch kommen wir
nicht mit leeren Händen. Wir bringen eurem Könige einen Schatz, der ihm lieber sein sollte als die
Fremde, die eure Stadt zu seinem und eurem eigenen Fluche beherbergen muß. Wir bringen ihm den
Knaben Polydoros, sein jüngstes und geliebtestes Kind, den unser Held Ajax in Thrakien dem Könige
Polymnestor entrissen hat und der hier gebunden vor euch steht und von eurem und eures Königes,
seines Vaters, Entschlusse, seine Freiheit und sein Leben erwartet. Gebt ihr uns Helena heraus und
liefert ihr sie heute noch in unsere Hände, so wird der Knabe seiner Fesseln ledig und bleibt im Hause
seines Vaters. Wird uns Helena verweigert, so gehe eure Stadt zugrunde, und vorher noch wird euer
König sehen müssen, was er für sein Leben nicht sehen möchte!«
Ein tiefes Stillschweigen herrschte in der ihn umringenden Versammlung des trojanischen Volkes, als
Odysseus aufgehört hatte zu sprechen. Endlich ergriff der weise und bejahrte Antenor das Wort und
sprach: »Liebe Griechen und einst meine Gäste! Alles, was ihr uns saget, wissen wir selbst und
müssen in unserm Herzen euch recht geben; auch fehlt uns der Wille, die Sache zu bessern, nicht,
wohl aber die Gewalt. Wir leben in einem Staate, in welchem der Befehl des Königes alles gilt; ihm
sich zu widersetzen, erlaubt die Verfassung unsers Reiches, der Glaube, den wir von den Vätern
ererbt, und das Gewissen des Volkes keinem von uns. Wir dürfen in allen öffentlichen
Angelegenheiten nur alsdann sprechen, wenn der König uns zu Rate zieht; und wenn wir gesprochen
haben, so behält er noch immer freie Hand, zu tun, was er will; damit du aber erfahrest, was die
Meinung der Besten im Volke über eure Angelegenheit ist, so werden sich die Ältesten unseres
Volkes versammeln und vor euch ihre Meinung abgeben. Dies ist, was uns zu tun übrigbleibt und
unser König selbst uns nicht verweigern kann.«
Und so geschah es. Antenor veranstaltete einen Rat der Ältesten und führte die Gesandten in
denselben ein. Hier nahm er den Vorsitz und befragte die Häupter des Volkes der Reihe nach über
die Gewalttat des Paris. Die vornehmsten Männer Trojas erklärten einer nach dem andern, daß sie
die Tat für einen fluchwürdigen Frevel hielten; nur Antimachos, ein kriegslustiger, aber tückischer
Mann, verteidigte den Raub der griechischen Fürstin. Er war von Paris mit reichlichen Gaben
bestochen worden, wo es immer Gelegenheit gäbe, sich seiner anzunehmen und die Auslieferung
Helenas zu verhindern. Auch diesmal arbeitete er für diesen Zweck, und hinter dem Rücken der
Helden erteilte er den ruchlosen Rat, die Gesandten der Griechen, drei ihrer tapfersten und klügsten
Helden, umzubringen. Als aber die Trojaner diesen Vorschlag mit Abscheu von sich wiesen, riet er, sie
wenigstens so lange zu behalten, bis sie den gefangenen Polydoros ohne Lösegeld und Tausch dem
Priamos ausgeliefert hätten. Auch dieser Rat wurde als treulos verworfen, und da Antimachos nicht
aufhörte, selbst öffentlich in der Versammlung die Helden zu schmähen, so wurde er von seinen
Mitbürgern, welche den Griechen ihre Mißbilligung seines Betragens und seiner Grundsätze
beweisen wollten, mit Schimpf aus der Versammlung gestoßen.
Erbittert begab sich Antimachos auf die Burg und unterrichtete den König von der Ankunft der
griechischen Gesandtschaft. Nun erhub sich im Rate des Königes und seiner Söhne selbst eine lange,
zwiespältige Beratung, zu welcher auch ein Ältester, der edle Panthoos, der das volle Vertrauen des
alten Königes genoß, gezogen wurde. Dieser wandte sich an den tapfersten, billigsten und
tugendhaftesten aller Söhne des Königes, an Hektor, mit der flehentlichen Bitte, dem Rat aller
besseren Trojaner nachzugeben und die unheilvolle Urheberin des Krieges auszuliefern. »Hat doch«,
sprach er, »Paris so viele Jahre lang Zeit gehabt, sich seines ungerechten Raubes zu erfreuen und
seine Lust zu büßen! Jetzt sind alle unsre verbündeten Städte zerstört, und ihr Untergang weissagt
uns unser eigenes Schicksal; dazu haben die Griechen deinen kleinen Bruder in ihrer Gewalt, und wir
wissen nicht, was aus ihm werden wird, wenn wir den Griechen Helena nicht ausliefern!«
Hektor wurde schamrot und bis zu Tränen betrübt, als er der Untat seines Bruders Paris gedachte.
Dennoch sprach er sich im Rate des Königes nicht für die Auslieferung der Fürstin aus. »Sie ist«,
antwortete er dem Panthoos, »einmal die Schutzflehende unsres Hauses. Als solche haben wir sie
aufgenommen, sonst hätten wir sie von der Schwelle des Königspalastes zurückweisen müssen. Statt
dies zu tun, haben wir ihr und dem Paris ein prächtiges Haus gebaut, und sie haben darin in
Herrlichkeit und Freuden lange Jahre verlebt, und ihr alle habt dazu geschwiegen und habt doch
diesen Krieg kommen sehen! Warum sollen wir sie jetzt vertreiben?« »Ich habe nicht geschwiegen«,
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