Stil und Text. Michael Hoffmann
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Название: Stil und Text

Автор: Michael Hoffmann

Издательство: Bookwire

Жанр: Документальная литература

Серия: narr studienbücher

isbn: 9783823300175

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      Zahlreiche Erscheinungsformen von stilistischem UnernstUnernst sind besonders interessant, da sie auf gestalterischer Kreativität beruhen. Schauen wir uns einzelne Beispiele an.

      Ein probates Mittel zum Erzeugen von UnernstUnernst trägt die terminologische Bezeichnung AprosdoketonAprosdoketon: der unvermittelte, unvorhersehbare, durchaus nicht immer unerwartete Wechsel (siehe Witze) hin zu einem inkongruenten Textelement, d.h. zu einem Textelement, das im Widerspruch steht zu kommunikativen Gepflogenheiten, kommunikativen Normen, auch alltagslogischem Wissen, indem es z.B. FrameFrame-Ordnungen stört. Solcherart Textelemente zum Erzeugen von stilistischem Unernst sind demnach kommunikative „Ordnungswidrigkeiten“ verschiedener Art. Es versteht sich, dass die PointenPointe von Witzen als Aprosdoketa beschreibbar sind. Aber auch AnspielungenAllusion (Allusionen) können aprosdoketisch gestaltet sein – wie der Titel eines Fernsehfilms beweist: „Einer für alle, alles im Eimer“ (Premiere im ZDF, 15.10.2015, 20.15 Uhr). An der Gestaltung dieses Titels waren zwei GestaltungsakteGestaltungsakt beteiligt: zum einen das Verdunkeln des Themas, zum anderen das Unernst-Machen des Titels. Der antimetabolischAntimetabole gestaltete Wahlspruch der „Drei Musketiere“ im Roman von Alexandre Dumas (Einer für alle, alle für einen!), der als Geflügeltes Wortgeflügeltes Wort zu den phraseologischen Zitaten gehört, wurde durch ein Aprosdoketon verballhornt: durch den inkongruenten, saloppsprachlichen PhraseologismusPhraseologismus im Eimer sein. Der TerminusTerminus „FormelbruchFormelbruch“, den Richard M. Meyer (1913: 39) verwendet, bringt diesen aprosdoketischen Fall auf den Punkt. Der zur Formel gewordene Spruch wird unernst gebrochen, und der Bruch ist unernst gemeint.

      Andere Beispiele für eine aprosdoketische Gestaltung finden sich – wie sollte es anders sein – in der Werbekommunikation. Eine Anzeige, mit der die Satirezeitschrift „Eulenspiegel“ vor einigen Jahren Abonnenten werben wollte, hob sich durch das Herausstellen von scheinbaren Mängeln des Produkts aus der Fülle von Werbetexten heraus.

      DAS SATIREMAGAZIN

      wird dem Ernst des Lebens in keiner Weise gerecht,

      unterstützt Politiker und andere geeignete Personen

      in ihrem Bemühen, sich lächerlich zu machen,

      verzerrt die Wirklichkeit bis zur Kenntlichkeit.

       Beispieltext 15: Werbeanzeige (Abschrift des Fließtextes)

      Wie man bemerkt, enthält jede einzelne Äußerung ein AprosdoketonAprosdoketon: in keiner Weise statt in jeder Weise; sich lächerlich machen statt sich für das Volk einsetzen; Kenntlichkeit statt Unkenntlichkeit. Eingeschliffene (automatisierte) FormulierungenFormulierung werden durch inkongruente Textelemente zu kommunikativ „ordnungswidrigen“ und somit entautomatisierten Formulierungen. Was unernst formuliert ist, ist hier aber – satiregemäß – ernst gemeint.

      Im Unterschied zu Werbeanzeigen ist im Muster der journalistischen TextsorteTextsorte Glosse stilistischer UnernstUnernst angelegt. Das sei an einem Exemplar dieser Textsorte untersucht.

      Matthies meint

       Teile des BER in Betrieb

      Berlin hat bekanntlich zwei ganz große Baustellen: den Flughafen und die Probleme mit der Unterbringung von Flüchtlingen. Beim Blick auf die jeweiligen Größenordnungen schwant auch dem Laien: Beides auf einmal geht schlecht. Aber wie wäre es, wenn wir uns auf die Suche nach den vielbeschworenen Synergien machen?

      Ja klar, die einschlägigen Witze haben wir hinter uns, es wird keine Feldbetten am Gepäckband geben und keine Suppenküche im Empfangsgebäude. Aber umgekehrt geht was: Soeben wurden eingelagerte Flughafen-Sitzbänke geholt, um den Wartebereich im neuen Bearbeitungszentrum Bundesallee ein wenig wohnlicher zu gestalten.

      Das ist zumindest gut gedacht, denn wer mal ein paar Nächte unfreiwillig auf diesen Spezialmöbeln zugebracht hat, der weiß, wie perfekt sie die Kombination von Anziehung und Abschreckung verkörpern: Man setzt sich ahnungslos rein, die Stunden vergehen, und plötzlich tut der Rücken weh wie Sau. Und wer drauf übernachtet, braucht Bandscheiben aus Stahl.

      Aber was bedeutet das für den Flughafen? Wird er nun ausgeschlachtet wie ein rostiges Auto, bis es dann so um 2019 herum heißt, nun sei der Rest auch nix mehr wert? In der Bundesallee können sie zweifellos noch mehr von diesen Sachen gebrauchen, zum Beispiel die Empfangs-Counter, an denen sympathische Uniformierte beim Einchecken das Gepäck wiegen, einsammeln und gleich direkt zur nächsten Notunterkunft schicken könnten, Irrläufer in Richtung Sydney oder Kassel-Calden eingeschlossen.

      Auch das Anzeigesystem mit den großen Bildschirmen ließe sich nutzen: Lageso drei Tage verspätet, Wohnheim in Hellersdorf gecancelt, Busse nach Brandenburg: Boarding hat jetzt begonnen. Wenn selbst ein lendenlahmer Flughafen wie Tegel jedes Jahr drölfzig Millionen Menschen korrekt durchschleust, sollte die ungenutzte BER-Infrastruktur ja allemal mit ein paar hunderttausend Flüchtlingen zurechtkommen.

      Das Ganze wäre jedenfalls eine zivile Variante und viel anheimelnder als das Sozialamts-Outfit der vorhandenen Ämter – zumal, wenn wir pensioniertes Bodenpersonal für den Betrieb gewinnen können. Die Leute sind sprachgewandt und nervenstark, verströmen Autorität und Weltgewandtheit.

      Das sollte für ein paar Jahre reichen. Falls dann doch noch jemand den BER in Betrieb nehmen möchte, schaffen wir einfach das Zeug aus Tegel in die Bundesallee.

       Beispieltext 16 : Glosse

      Potsdamer Neueste Nachrichten, 10.10.2015, 1.

      Bereits die Schlagzeile Teile des BER in Betrieb entpuppt sich als thematische Irreführung, denn wir erfahren aus dem Haupttext, dass es nicht um den immer noch seiner Eröffnung harrenden Hauptstadtflughafen BER geht, sondern um die Umsetzung von Terminalmobiliar (eingelagerte Flughafensitzbänke) in den Wartebereich im neuen Bearbeitungszentrum Bundesallee, einer Behörde zur Registrierung von Flüchtlingen. Eine ernst formulierte Schlagzeile wird durch den Haupttext unernst gemacht, zwischen Schlagzeile und Haupttext konstituiert sich ein „textlicher WiderspruchWiderspruchtextlicher“, der als Indikator von IronieIronie/Ironisieren gilt (vgl. Plett 2001: 122). Zu seinem Thema ‚Zweckentfremdung von Terminalmobiliar‘ formuliert und begründet der Textproduzent zwei Thesen; er entfaltet das Thema also argumentativ. Schauen wir uns die beiden Thesen und ihre Begründung näher an.

      These 1: Das Motiv der Aktion, den Wartebereich im Bearbeitungszentrum wohnlicher zu gestalten, ist zumindest gut gedacht.

      Wir registrieren zwar zunächst eine positive Haltung (gegenüber der Aktion) als thematische EinstellungEinstellungthematische, die von ErnstErnst als stilistischer Einstellung geprägt zu sein scheint, doch die mit der Konjunktion denn angeschlossene Begründung (denn die Möbel verkörpern perfekt die Kombination von Anziehung und Abschreckung) offenbart das ganze Gegenteil. Was als Lob formuliert ist, stellt sich als Tadel heraus. Der Wechsel von Lob zu Tadel ist aprosdoketisch gestaltet: Während die Wörter perfekt und Anziehung noch Wörter mit positiver Wertung sind, folgt mit dem unvermittelt angeschlossenen Wort Abschreckung ein negativ wertendes Wort. Auch zwischen These 1 und ihrer Begründung konstituiert sich somit ein textlicher WiderspruchWiderspruchtextlicher.

      These 2: In der Bundesallee können sie zweifellos noch mehr von diesen Sachen gebrauchen.

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