Machtästhetik in Molières Ballettkomödien. Stefan Wasserbäch
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СКАЧАТЬ und Kunstformen wie auch die damit einhergehende Autorenschaftsfrage, die Sujetheterogenität der Ballettkomödien sowie der Rahmen der königlichen Feste, in denen sie zwar eine Glanznummer waren, aber nicht alleinig für das Divertissement sorgten. Demgemäß lassen sich in den federführenden Wörterbüchern von César P. Richelet und Antoine Furetière aus jener Zeit keine Einträge zu den comédies-ballets oder zu anderen vergleichbaren, sich auf diese Kreation beziehenden Bezeichnungen finden.4 Dieser Mangel ist selbstverständlich hinderlich für die Erforschung einer Gattungsrezeption durch zeitgenössische Kritiker, sodass man nach weniger expliziten, aber trotzdem verbindlichen Hinweisen zur Eigentümlichkeit der Gattung suchen muss. Zu diesem Zweck können Abbé d’Aubignacs La pratique du théâtre von 1657 und Nicolas Boileau Despréaux’ Art poétique von 1674 herangezogen werden, spiegeln diese theoretischen Schriften doch wie keine anderen Werke das poetologische Verständnis des classicisme français wider. In diesen Traktaten können Hinweise auf geltende Regeln für die Komödie gesucht werden, die auch für die Ballettkomödie von Bedeutung sind.

      Die klassische Ästhetik ist von einem „caractère anti-baroque“5 beeinflusst und setzt sich aus Rationalismus6, Harmoniebestrebungen durch Maßhaltung und Symmetrie, Schönheit sowie der Imitation der menschlichen Natur und antiker Vorbilder zusammen. Als Regelwerk der klassischen Literatur fasst die doctrine classique diese Ästhetik konkret zusammen. Sie beinhaltet für die Dramatik die Einheit der Zeit, des Ortes und der Handlung sowie die beiden Kriterien vraisemblance und bienséance. Die vraisemblance orientiert sich am aristotelischen Mimesis-Begriff. Roger de Piles sieht in der vraisemblance ein starkes Wirklichkeitsprinzip gegeben, ja spricht er diesem Konzept sogar eine Übersteigerung des Wahrheitsanspruches zu, denn: „[C]e beau vraisemblable […] paroît souvent plus vrai que la vérité-même […].“7 Der Begriff zeugt zudem von einem strukturellen Anspruch, indem er eine Kohärenz zwischen den unterschiedlichen, das Theater konstituierenden Elementen einfordert – die einträchtige Trias von Raum, Zeit und Handlung – und das Arbiträre ausschließt.8 Die vraisemblance-Forderungen bilden mit der Ergänzung und Modifizierung seitens der bienséance-Forderungen, welche eine Klassifizierung in die ästhetischen, moralischen und politischen Normen der Zeit beinhalten, die Basis für die nachgeordneten Regeln der drei Einheiten. Das poetologische Regelsystem des 17. Jahrhunderts zielt daraus resultierend auf eine sich an der aristotelischen Poetik orientierende Dichtungskonzeption ab – gegründet auf Ordnung und Vernunft –, welche die Dichtung so versteht, dass sie durch ästhetisches Vergnügen und emotionale Rührung zur sittlichen Besserung und Erziehung des Menschen beiträgt:9 „[L]e théâtre est aujourd’hui devenu une école de vertu et une censure du ridicule des hommes […].“10 Die aristotelische Poetik bildet die poetologische Basis für das gesamte klassische Theater in Frankreich.

      In La pratique du théâtre widmet sich d’Aubignac in seinem dritten Buch im vierten Kapitel Des Chœurs dem strukturellen Element des Chors im antiken Theater. Hinsichtlich der Gattungsspezifik interessiert hierbei weniger dessen Funktion, sondern vielmehr seine inhaltliche wie auch strukturelle Verbundenheit mit der Komödie und deren Einschätzung durch den Theoretiker, um daraus eine hypothetische poetologische Legitimation für Molières neue Gattung ableiten zu können. Am Beispiel des antiken Komödiendichters Aristophanes lobt der Abbé die sujetkonforme Integration des Chors in die Komödienhandlung, da sie das Prinzip der vraisemblance aufs Höchste erfülle:

      S’il [le chœur, Anm. S.W.] le faillait inventer, ils [les principaux acteurs, Anm. S.W.] le cherchaient toujours conforme à la nature du Sujet, et selon que plus vraisemblablement qu’il pouvait être. Ce qu’Aristophane a très ingénieusement observé dans la Comédie, ayant fait un Chœur de Grenouilles qui chantent, tandis que Bacchus passe le Styx dans la barque de Caron; un autre de Frelons, ou Mouches guêpes dans la maison de Philocleon, dont son fils le veut empêcher de sortir: Imaginations certes très ridicules, mais Comiques, et où la vraisemblance est bien gardée; il invente fort bien pour faire rire, et ne contrevient point aux maximes de son Art.11

      Zugleich verweist der Abbé auf die aus den musikalischen Interventionen resultierende komische Wirkung und definiert somit indirekt die besondere Komikästhetik, die aus der Verbindung von musikalischen und sprachlichen Elementen hervorgeht und für die Interpretation von Molières Intermedialitätskonzept entscheidend ist. D’Aubignac scheint keinen Anstoß an der Parallelität von Chornebenhandlung und Komödienhaupthandlung zu nehmen, solange das Wahrscheinlichkeitsprinzip gewahrt bleibt. Er geht außerdem davon aus, dass es möglich sei, den Chor – „le plus superbe ornement du Théâtre“ –12 im Theater der Klassik wiederzubeleben, merkt aber an:

      Il serait nécessaire d’avoir des Musiciens et des Danseurs capables d’exécuter les inventions des Poètes, à la façon de ses Danses parlantes et ingénieuses des Anciens; ce que j’estime presque impossible à nos Français, et très difficile aux Italiens.13

      Schon vier Jahre nach der Publikation seiner Theaterfibel zeigt sich, dass d’Aubignac mit seiner Einschätzung daneben lag, weil das französisch-italienische Duo Molière und Lully diese alte Tradition im französischen Theater wieder etabliert, sie zu einer kulturspezifischen Dramenästhetik umformt und perfektioniert. Es wäre zu spekulativ, sich über d’Aubignacs Ansichten zur Ballettkomödie zu äußern, aber bezüglich der poetologisch für die Klassik verbindlichen Einheitsregel bleibt festzuhalten, dass Molière diese sowohl strukturell als auch im Sinne der vraisemblance weitestgehend erfüllt. Er lässt sich aber nicht zum Knecht der Regeln machen und entscheidet sich in seinen Ballettkomödien zugunsten der innovatio, die für das Publikum überraschende variatio.

      Auch in Boileaus als Versepistel verfasster Poetik Art poétique ist ein zur Norm gewordener Hinweis auf die Komödienstruktur zu finden: „Les scènes toûjours l’une à l’autre liées [pour avoir, Anm. S.W.] son nœud bien formé.“14 Diese verpflichtende Regel, eingeleitet durch ein obligatorisches „il faut“15, lässt sich auf das neue Genre applizieren, denn sie kongruiert mit derselben Anforderung, die Molière in Anbetracht der dramatischen Verflechtung von Zwischenspiel und Komödie an sich selbst stellt; dahinter steckt das Prinzip der trois unités der doctrine classique. Trotz dieser die Dramenstruktur betreffenden Leitprinzipienkonkordanz ist es erstaunlich, dass Boileau Molière nicht nur aufgrund seiner menschlichen, sondern auch aufgrund seiner ästhetischen Qualitäten die freundschaftliche Treue hält.16 Er konfrontiert seinen Freund zwar öfters mit dem Vorwurf, zu sehr „ami du peuple“17 zu sein, also den demotischen Elementen der Farce und der commedia dell’arte zu große Spielräume in seinen Theaterstücken einzuräumen, mithin der ästhetischen wie auch moralischen bienséance nicht gänzlich nachzukommen. Gleichzeitig scheut Boileau nicht davor zurück, Molières Genie ausgiebig zu würdigen. So bekundet er in seinen Versen bewunderungsvoll:

      Rare et fameux Esprit, dont la fertile veine

      Ignore en écrivant le travail et la peine;

      Pour qui tient Apollon tous ses trésors ouverts,

      Et qui sçais à quel coin se marquent les bons vers.

      Dans les combats d’esprit sçavant Maistre d’escrime,

      Enseigne-moi, Molière, où tu trouves la rime.

      On diroit, quand tu veux, qu’elle te vient chercher.18

      Des Weiteren steht in Boileaus erstem Gesang das Stilprinzip der varietas an exponierter Stelle. Schließlich sei dies geeignet, die Kunst durch eine glückliche Mischung an Stilen zu bereichern, um somit dem literaturästhetischen ennui entgegenzuwirken:

      Voulez-vous du public mériter les amours?

      Sans cesse en écrivant variez vos discours.

      Un stile trop égal et toûjours uniforme,

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