Название: Machtästhetik in Molières Ballettkomödien
Автор: Stefan Wasserbäch
Издательство: Bookwire
Жанр: Документальная литература
Серия: Biblio 17
isbn: 9783823300168
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In diesem Zusammenhang ist auf das ebenfalls 1674 erschienene Werk Le théâtre français von Samuel Chappuzeau zu verweisen. Jean-Baptiste Poquelin erscheint darin kurz nach seinem Tod als Genie der Komödie, als ein Autor, dessen Werke innovative Maßstäbe setzen und der auf seinem Gebiet die sich bereits andeutende Querelle des Anciens et des Modernes gegenstandslos macht: „[L]’esthétique de Molière est révolutionnaire, à notre sens, pour avoir, la première, pleinement satisfait à l’esprit de la doctrine classique du genre comique, par delà ses règles et ses dogmes mêmes.“21 Molières Innovation ist zu einem Großteil seinen Ballettkomödien zuzuschreiben, denn dort scheint er die neoaristotelischen Regeln zu überwinden.
Die hier nur in knappen Auszügen dargestellten, aber dennoch aussagekräftigen Regeln und Prinzipien der beiden Regelpoetiken tragen indirekt Elemente zur Gattungspoetik der Ballettkomödie bei und heben einstimmig ihre innovativen Aspekte hervor. Demnach ist die Gattungsfusion poetologisch legitimiert, da Molière die Künstekombination, die Sujetkonformität und das Wahrscheinlichkeitsprinzip seiner Intermedien im Sinne d’Aubignacs weitgehend respektiert und auch Boileaus Forderungen nach Dramenstrukturkohärenz und variatio nachkommt; das Kohärenzprinzip impliziert die Einheitsregel der Werke. Bezüglich der von Boileau bisweilen angeprangerten bienséance-Vorstellungen Molières ist zu erwähnen, dass sich diese nicht im Sinne des Gelehrten auf die antiken, sondern auf die zeitgenössischen Normen beziehen, die vom goût mondain geprägt sind, und von der antikisierten Ansicht Boileaus divergieren. Molière lässt sich nicht in seiner künstlerischen Freiheit beschneiden und triumphiert mit seinen Innovationen jenseits der neuaristotelischen Regelpoetik. Ferner untermauert die 1673 im Mercure galant erschienene Beurteilung durch den Schriftsteller Jean Donneau de Vizé die Legitimation der jüngst geborenen Gattung aus Sicht der Akademien. Es handelt sich um eine der genauesten Definitionen und Einschätzungen in puncto Ballettkomödie seiner Zeit: „Il [Molière, Anm. S.W.] a, le premier, inventé la manière de mêler des scènes de musique et des ballets dans ses comédies et trouvé par là un nouveau secret de plaire qui avait été jusqu’alors inconnu.“22
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die aufgezählten Äußerungen zu Molières Meisterleistung bei zeitgenössischen Kritikern den Eindruck einer innovatio erwecken, verstanden als Steigerung zur aemulatio, aber gleichwohl im Sinne einer autonomen Schöpfung, welche nicht mehr ausschließlich auf das Prinzip der Nachahmung baut, sondern bereits auf eine Vorform des ingenium. Die comédie-ballet reflektiert eine wichtige Schaffensphase im Werk von Molière, die sich einem erschließt, wenn man
diesen großen Dichter nicht nur als den genialen Menschenkenner, Charakteristiker, Moralisten und Satyriker anzusehen [gewillt ist], sondern ihn ebenso in seiner gewaltigen künstlerischen Bedeutung als Meister der Form, der Theatralik und reinen bühnenmäßigen Bewegungskunst zu verstehen versucht.23
1.6 Ein Schauspiel als politischer art de plaire
Donneau de Vizé zufolge gelingt es Molière mit der Ballettkomödie, einen „nouveau secret de plaire“ zu schaffen, ein Unterfangen, das in der Kombination der drei Künste Musik, Tanz und Komödie gründet. Auch Pellisson intendiert in seinem Prolog zu Les Fâcheux, dass es bei dem Spektakel darum gehe, dem König zu gefallen: „Il s’agit de lui plaire […].“1 Der art de plaire ist einer der Hauptstreitpunkte in den Kritiken von 1660 bis 1680, denn daran ist der goût gekoppelt. Die Rezeption der Werke sorgt nicht selten für Zündstoff bei den doctes, den Schiedsrichtern des bon goût: Eine Querelle entfacht, wenn Werke, die gegen die strengen Prinzipien der doctrine verstoßen, dennoch sowohl dem goût der Zeit entsprechen als auch mit dem plaire des Herrschers und mit dem des Publikums korrespondieren. Der Wunsch zu gefallen wird fast in jedem Vorwort großer literarischer Werke angeführt, sodass er zu Zeiten Molières zum erschöpften Topos, zur leeren Formel mutiert. Bei einer epideiktischen Rhetorik besteht der Prolog aus einer Lobrede auf den König oder einer taktvollen Empfehlung des Herrschers, mit der Absicht des Künstlers, sich der Gunst und dem Wohlwollen des Souveräns für die Aufführung gewiss sein zu können. Molière rekonstruiert diesen Gemeinplatz und besetzt ihn neu, wodurch er seine Glaubwürdigkeit als Komödienautor bekräftigt und etwaigen Anfeindungen geschickt vorbeugt. In seiner poetologischen Komödie La Critique de l’École des Femmes lässt er Dorante diesbezüglich sagen:
Je voudrais bien savoir si la grande règle de toutes les règles n’est pas de plaire; et si une pièce de Théâtre qui a attrapé son but n’a pas suivi un bon chemin. Veut-on que tout un public s’abuse sur ces sortes de choses, et que chacun n’y soit pas juge du plaisir qu’il y prend? (CEF, 507)2
Uranies Antwort führt Dorantes Gedanken zum plaire weiter. Sie stimmt ihrem Vorredner zu und merkt ergänzend ein allgemeines Missfallen der zu sehr auf Regelhaftigkeit hin komponierten Komödien an: „J’ai remarqué une chose de ces Messieurs-là; c’est que ceux qui parlent le plus des règles, et qui les savent mieux que les autres, font des Comédies que personne ne trouve belles.“ (CEF, 507)
Indem Molière den plaire zur Kardinalsregel erklärt, wertet er das Vorhaben auf, seinem Publikum zu gefallen, und legitimiert zugleich den goût, denn es kann nur gefallen, was dem Kunstgeschmack entspricht. Damit vereint er die Gegensätze miteinander, erklärt er doch den zeitgenössischen Kunstgeschmack der Rezipienten über den intendierten plaire zur poetologischen Regel. Da der plaire in jener Zeit zum fundamentalen Gesetz der galanten Ethik wird, stellt dessen Erfüllung die wichtigste Aufgabe eines modernen Autors dar, der die Instruktionen den Pedanten von früher überlässt und sich kaum darum kümmert, jene anzunehmen.3 Molière würdigt seine literaturästhetischen Aspirationen hier, indem er anführt, dass das Leben im Umfeld höfischer Kreise „une manière d’esprit, qui, sans comparaison, juge plus finement des choses, que tout le savoir enrouillé des Pédants“ (CEF, 506) entwickele.4 Dieser Gedanke ist gar nicht so fremd, wenn man bedenkt, dass das Publikum la cour et la ville ist, eine dem kulturellen Ideal der honnêteté zugewandte Gesellschaftsschicht, die auf dem Prinzip der raison fußt, also auf jenem Prinzip, nach welchem die doctrine classique aufgebaut ist. Im Grunde existiert daher keine große Opposition zwischen doctrine und goût, denn beide literaturästhetischen Bewertungskriterien orientieren sich an der großen literarischen Tradition der Antike, die im 16. Jahrhundert durch den Humanismus wiederentdeckt wurde.5 Sonach wird dem Dodekameron über den Aspekt der raison implizit eine Regelaffinität attribuiert, eine Art reglementierte Pseudo-Regellosigkeit des guten Geschmacks. Die Tatsache, dass es sich nicht immer vorrangig um ästhetische Differenzen bei den Bewertungsprinzipien handelt, zeigen die immer wieder aufkommenden Querelles in dieser Epoche, die von persönlichen respektive politischen Machtkämpfen gezeichnet sind.
Molière widmet seine Ballettkomödien in erster Linie dem Sonnenkönig und zielt primär auf dessen Geneigtheit ab. Die fehlende Poetik und die daraus nicht ableitbaren Regeln für das neue Genre werden durch die Regel des plaire substituiert, der zum obersten Gestaltungsprinzip avanciert. Somit ermöglicht Molière eine exklusive Beurteilung seiner Werke durch den König und nicht durch die Theoretiker – ein Rezeptionsvorgang, der den Monarchen zum kulturellen Alleinherrscher macht und ihn zum Schiedsrichter des bon goût СКАЧАТЬ