Название: Zwinglis gefährdetes Erbe
Автор: Hans Peter Treichler
Издательство: Bookwire
Жанр: Документальная литература
isbn: 9783037600481
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Manche Portale, so der «wahrhaft zyklopische» Oetenbacherturm, sind derart massiv, dass sich der Glaube festsetzt, der Bau der Befestigung habe sich über viele Generationen hinweg erstreckt; in der minderen Stadt habe der Bau «schon Anno 880 unter Kaiser Karl dem Dicken» begonnen. Tatsächlich schafft die Bevölkerung diesen kollektiven Kraftakt aber in knapp 50 Jahren; im grossen Ganzen stehen Mauern, Türme und Gräben im ersten Drittel des 14. Jahrhunderts bereit. Zeit lässt man sich allein mit der «vierten Wand» der Wehrtürme. Die der Stadt zugekehrte Seite bleibt offen, was den Blick auf die hölzernen Treppen und Fussböden im Turminnern freigibt. Das gilt zumindest bis zur Zeit des Malers Hans Leu, der um 1500 ein erstes realistisches Porträt der spätmittelalterlichen Stadt schafft. Ein Altarbild eigentlich, das vom Martyrium der Stadtheiligen Felix und Regula handelt, um der Wirklichkeitsnähe willen aber die Plätze und Gassen mit allerlei kleinen Alltagsszenen bevölkert: Da stösst ein Händler seinen Handkarren, und ein Kollege schiebt von hinten mit, ein Fährmann holt eine Dreierdelegation auf der Plattform des Wellenberg ab, und eine schwarz gekleidete Nonne wartet vor dem Portal des Grossmünsters auf Einlass.
Als Betrachter können wir nachprüfen, wie es mit der Reinlichkeit steht, die man der Stadt nachsagt – jedenfalls seit die Obrigkeit verfügt hat, es seien alle Gassen und Strassen systematisch zu pflästern, und ward zugleich verbotten, dass man ein jar lang kein Schwein auff der Gassen solte lauffen lassen. Schweine zeigt das Altarbild nicht gerade, immerhin weist die Stadt aber überraschend grosse Grünflächen auf: hinter dem Grossmünster beispielsweise ein ausgedehnter Rebberg, und flussaufwärts von der Schipfe schlängelt sich ein Spazierweg durch eine Hangwiese, darüber der sattgrüne Lindenhof. Linden finden sich auch anderswo: Stadtgräben und -wälle sind mit Tilia platyphyllos bepflanzt; viele Häuser tragen Namen wie Lindenbrunnen, Lindengarten oder Lindenturm. Im Juni ist die Stadt gehüllt in eine Wolke aus Nektarduft, die sich allerdings gegen die Fäkalienschwaden aus Entsorgungsgräben und Misthaufen, von Pferde- und Rinderdung durchsetzen muss. Denn am Rindermarkt findet regelmässig der Viehmarkt statt, und das Schweineverbot lässt sich auf die Dauer nicht durchsetzen.
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Truppenverzeichnis des Aufgebots von Richterswil für einen Feldzug nach Norditalien.«tod» heisst der Randeintrag der zweituntersten, «heim» jener der untersten Zeile. Wo Simon Äschmann den Tod fand, ist nicht überliefert – Gelegenheit dazu gab es reichlich, als das eidgenössische Söldnerheer im Herbst 1512 die Lombardei eroberte. Hunderte von «Rödeln» oder Mannschaftslisten wie jene der Seegemeinde «Richtischwyl» erfassen die 18‘000 Söldner, die an der Kampagne teilnahmen.
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Solddienst
Bereits in der ersten Phase der Reformation erlässt der Zürcher Rat ein Verbot der Reisläuferei, also des Solddienstes in auswärtigen Heeren. Den Ausschlag geben religiöse und moralische Bedenken. 1521 schliessen zwölf eidgenössische Orte ein Soldbündnis mit Frankreich; als einziger der 13 Stände lehnt Zürich den entsprechenden Vertrag ab. Aber so dicht ist das wirtschaftliche und politische Flechtwerk, das der Exportartikel «Kriegsknecht» geschaffen hat, dass Zürichs Abseitsstehen den Landesfrieden gefährdet. Auch in der Stadt selbst gibt es gut bezahlte Lobbyisten, die sich die Zustände von einst zurückwünschen.
Beim «Grossen Pavierzug» von 1512 ist man sich noch einig: Die Eidgenossenschaft greift als Verbündete des Papstes und der Mailänder Herzöge in den seit Jahrzehnten geführten Machtkampf um Oberitalien ein. Schon der Zürcher Truppenanteil mit seinen 3200 Infanteristen und 400 Berittenen stellt ein eigentliches Volksaufgebot dar. Bei einer Bevölkerungszahl von 50‘000 macht dieses Detachement ein Fünftel der männlichen Einwohner aus – rund die Hälfte aller Wehrfähigen! Dabei kämpft man keineswegs um die Unabhängigkeit des Landes, sondern greift aktiv in die europäische Machtpolitik ein. Und dies mit Erfolg: Innerhalb weniger Wochen werden die französischen Besatzer aus der Lombardei vertrieben. Die Eidgenossen setzen Maximilian Sforza als Herrscher über das Herzogtum Mailand ein, betrachten Mailand fortan als ihr Protektorat und erweitern ihr eigenes Herrschaftsgebiet um das Veltlin.
Ein Triumph, dem aber schon drei Jahre später die militärische und politische Katastrophe folgt. Zwingli hat die Schlacht von Marignano (siehe i Die Niederlage von Marignano) als ohnmächtiger Beobachter von der Seitenlinie aus verfolgt. Für ihn wie für viele andere unabhängige Zeitzeugen steht fest, dass die aggressive Expansionspolitik der Eidgenossen in die Sackgasse führen muss. Jetzt ist es so weit: Gegen das französische Heer mit seiner überlegenen Artillerie stehen die gefürchteten Schweizer Nahkampfspezialisten auf verlorenem Posten. Am zweiten Tag der Schlacht ziehen sie sich zurück; sie haben 8000 (nach anderen Quellen: 10‘000) Todesopfer zu beklagen. Auch die Bilanz für den Zürcher Auszug sieht schrecklich aus: 800 bis 900 Gefallene. Rechnet man mit einer Kantonsbevölkerung von 50‘000, so kosten die schicksalsschweren Tage des 13. und 14. Septembers 1515 rund vier Prozent der männlichen Einwohnerschaft das Leben. Auf heutige Verhältnisse übertragen wären das 60‘000 Todesopfer – eine nationale Katastrophe! Sie wird sich ganz massiv auf die Ausbreitung des reformatorischen Gedankens auswirken.
i Die Niederlage von Marignano – Unter den zahlreichen Schlachten, die eidgenössische Truppen im Verlauf der oberitalienischen Feldzüge austrugen, wirkte sich jene von Marignano massgeblich auf die Grossmachtpolitik der 13-örtigen Eidgenossenschaft aus. Im Bündnis mit dem Papst und dem Herzog von Mailand versuchte ihre 20‘000 Mann starke Streitmacht, die Expansionspolitik der französischen Krone aufzuhalten. Am 13. September 1515 traf ihr Heer in Marignano, einem Vorort Mailands, auf die zahlenmässig überlegenen französischen Truppen von König Franz I. Es erlitt in einer ersten Phase der Schlacht schwere Verluste durch Artilleriefeuer, setzte am Folgetag nach stundenlangen Kämpfen zum entscheidenden Angriff an, wurde aber durch das Vorrücken einer venezianischen Streitmacht zum Rückzug gezwungen. Mit rund 9000 Gefallenen verloren die Eidgenossen fast die Hälfte ihres Kontingents. Ulrich Zwingli wurde als Feldprediger der Glarner Truppen zum Augenzeugen der Tragödie, die ihn zum erbitterten Gegner des Dienstes in fremden Heeren machte. Franz I., der sich in der Folge selbst als «ersten Bezwinger der Helvetier seit Julius Caesar» feierte, suchte schon im Folgejahr den «Ewigen Frieden» mit den 13 Orten. Das im November 1516 besiegelte Bündnis sah die Bereitstellung eidgenössischer Söldnertruppen für das französische Heer vor; es hatte in den Grundzügen bis zum Revolutionsjahr 1789 Bestand. (HLS sub Marignano)
Blut rinnt aus dem Ornat
Was haben die Eidgenossen in diesem Italien verloren? Wozu betreiben sie hier Territorialpolitik, zusammen mit Päpsten, Herzögen und der französischen Krone? Und wie rechtfertigen sie ihre erratische Bündnispolitik? Zu Beginn des Jahrhunderts haben sie sich zu Tausenden dem französischen Heer unter Ludwig XII. angeschlossen, wechseln im Sommer 1512 aber ins feindliche Lager und vertreiben Ludwigs Truppen aus eben jenem Territorium, das sie vor kurzem mit ihnen zusammen eroberten. Und so unerwartet kommt diese Kehrtwendung, dass sich plötzlich Landsleute auf beiden Seiten der Front finden, dass Eidgenossen gegen Eidgenossen kämpfen, in mehreren Gefechten.
Hier ist ein einziges Mass angelegt worden – jenes der Dukaten und Goldkronen. Wo nur mehr das Geld regiert, so klagt Zwingli in einer berühmt gewordenen Predigt, wird Weiss über Nacht zu Schwarz, ist der Feind von gestern dein Bruder von heute, wird aus dem obersten Hirten der Christenheit der gefrässige Wolf, gebärden sich der Papst, die Kardinäle in ihren purpurnen Ornaten als Kriegsherren. «Zu Recht tragen СКАЧАТЬ