Название: Jahrhundertwende
Автор: Wolfgang Fritz Haug
Издательство: Автор
Жанр: Историческая литература
isbn: 9783867548625
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17. Mai 1991
In der SU Zeichen der Politikfähigkeit, wieder auf Grundlage der sich zusammensetzenden Republikführungen unter Moderation von Gorbatschow: 13 von 15 Präsidenten haben sich mit der Sowjetregierung auf ein Antikrisenprogramm geeinigt. Georgien und Estland blieben weg. In den USA soll sich Schewardnadse für die Einschaltung der UNO zur Beilegung regionaler Konflikte in der SU ausgesprochen haben.
Kathrin am Telefon: ist glücklich, die Russischprüfung mit drei bestanden zu haben, war einen Monat »krankgeschrieben«, kommt jetzt nach Berlin und – ich falle aus allen Wolken, wie ich das höre – beabsichtigt eigentlich nicht, zur Volksuniversität zu kommen, weil sie vormittags schlafen muss, nachmittags nicht so recht weiß. Ich finde das ›vollkommen unmöglich‹, wie man so schön kontrafaktisch sagt. Banges Vorgefühl, ob die VU in Ostberlin ankommt. Das Risiko scheint größer als gedacht.
21. Mai 1991
Der Jurist Friedrich-Christian Schroeder von der Universität Regensburg verlangt in der FAZ, die PDS für Umweltschäden in der vormaligen DDR haftbar zu machen. Will auf Enteignung hinaus. Merkwürdig das Eventualargument, »dass die PDS illegale Ersatzorganisation einer verbotenen Partei« sei. Phantasiert er ein Verbot herbei? Das von ihm aufgemachte Schadensbild lässt sich auf jede Regierungspartei einer Industriegesellschaft anwenden. Die Begründung der Schäden im einzelnen nach der Logik des Hexenhammers. Ausgerechnet die SED mit ihrem Erbepathos soll die historische Vergangenheit auszulöschen versucht haben. Dass vieles abgerissen wurde, steht auf einem andern Blatt. Von vielen westdeutschen Städten weiß man, dass die Bomben des Zweiten Weltkriegs nicht so viel an alter Stadtsubstanz zerstört haben wie die »Sanierungen« der Wohlstandsjahre. Und sind in der BRD etwa nicht auch »schwerste Umweltschäden eingetreten«? Müssen die Regierungsparteien fürs Waldsterben aufkommen? Schroeder argumentiert mit der Generalkompetenz des Politbüros, das über der Regierung stand. Das ist tatsächlich ein gewaltiger struktureller Unterschied zur bundesdeutschen Machtstruktur. Aber man kann dieses Faktum (und viele haben das getan) auch als Verstaatlichung der Partei auslegen. Nicht die Partei regierte, sondern in der Partei wurde regiert. Der beherrschte Staat beherrschte die Partei. Er war in der Partei wiedergekehrt. Schroeder ruft nun nach Prozessen gegen die PDS, in denen irgendwie Geschädigte Schadensersatz einklagen. Er verheißt Finanzierung ihrer Prozesskosten.
22. Mai 1991
Kathrin erschien tatsächlich nur kurzzeitig, ihr Freund überhaupt nicht, er wollte Fallschirmspringern zusehen. Aber die VU »kam an« in Ostberlin. Von mir habe ich freilich (wie zumeist) das Gefühl, dem historischen Moment nicht genügt zu haben, ein alterndes Füllen, stets bereit, loszusprengen, natürlich nicht in irgendeine Richtung, sondern schon in eine der »richtigen«, aber einseitig: wenn ich die Suppe fad finde, würze ich sie, das sieht dann für manche so aus, als böte ich Würze statt Suppe.
Reinhart Mocek fragte nach dem »Gedankensystem« von Marx (fragte also unverändert marxistisch-leninistisch. Ohne Rede von der historischen Mission der Arbeiterklasse sei Marxismus oder auch nur marxistische Theorie sinnlos. Er hat Brechts vernichtende Kritik an dieser Figur nie zur Kenntnis genommen. Seine weiteren Kriterien sind: Geschichtsgesetze, Materialismus, Dialektik (letztere sieht er in Selbstorganisations-Forschung weiterverfolgt). Die Diskussionsanordnung erlaubt keine Bearbeitung der von Mocek genannten Fragen. Mir fehlt es an gesammeltem Überblick und kalkulierter Argumentation. Ich lege los bei Agnolis (Mocek nennt ihn Avinieri) Kriterien der Absage an Rechtsstaat und Markt und Stamms kulturrevolutionärem (intellektuellenfeindlichem) Gestus.
Mocek sieht blass und fast verhärmt aus, anders als noch in Frankfurt. Wir Westmarxisten seien »auf dem besseren Pferd«. Er unterscheidet mit gewissem Recht den »Popular-ML« vom wissenschaftlichen. In den akademischen Institutionen habe es kein Nachplappern gegeben. Habermas hat sich jetzt erinnert, bei seinem Besuch in Halle (auf Einladung Moceks) sei Erich Hahn als Aufpasser dabeigesessen; in Wirklichkeit habe Habermas darum gebeten, weil es um eine gemeinsame Veranstaltung beim Weltphilosophenkongress ging.
Jan Vogeler, auf den ich mich gefreut hatte, entpuppte sich als wahre Kongressplage. Zog von Veranstaltung zu Veranstaltung mit immer derselben Litanei. Die ersten beiden Male hörte man sie noch wohlwollend an, bis man begriff, dass seine rituell wiederholte Versicherung, er sei ein sowjetischer Kommunist, gekommen um zu lernen, die Tatsache maskierte, dass er überhaupt nicht zuhörte und schon gar nicht lernte. Am schlimmsten sein Auftritt beim Perestrojka-Workshop des letzten Tages, wo er nicht nur seinen unthematischen Sermon endlos wiederholte, sondern auch noch alle übrigen gröblich missverstand. Als ich Michael Stürmer zitiert hatte, hielt er mich für dessen Anwalt. Eine dumme Propagiererei, totalitär, aber nun als angestrengte Zahnlosigkeit. Ein Jesuit einer Revolution, die es nicht mehr gibt. Seine Wirklichkeitsbehauptungen: Dreiviertel der sowjetischen Bevölkerung stehen unerschütterlich hinter Gorbatschow; in Moskau sind die Geschäfte leer, die Kühlschränke aber voll – und zwar für sechs Monate im Voraus. G habe niemals von sozialistischer Marktwirtschaft gesprochen, immer nur von Marktwirtschaft sans phrase. Ich schließe daraus auf eine neuerliche Wende, die in der alten Struktur erfolgt und daher ihr Immer-Schon hinter sich wirft und so als Erbin der ideologischen Ewigkeit auftritt. – Eigentlich war er für gestern Abend auf Besuch bei mir angesagt, blieb aber zu meiner Erleichterung ohne Entschuldigung aus.
Hans Mottek scheint nun der ›chinesischen Variante‹ den Vorzug zu geben.
26. Mai 1991
Vor drei Tagen ist in Leningrad eine Börse aufgemacht worden. Am ersten Tag soll es zu 150 Transaktionen im Wert von rund 50 Mio Rubel gekommen sein. Unklar, was da umgesetzt wurde. Im Juni soll darüber abgestimmt werden, ob Leningrad in St. Petersburg rückbenannt wird.
28. Mai 1991
Die »Neue Gesellschaft« (Sonderheft 2: Der Sozialismus der Zukunft) druckt einen Text von Jean Elleinstein unter dem programmatischen Titel: »Der Marxismus stirbt, der Marxismus ist tot, es lebe der Sozialismus!« »Wir sind in Westeuropa nicht mehr in der […] kapitalistischen Phase«, meint er. Die Geschichte habe »zugunsten des demokratischen Sozialismus entschieden, der die Hauptkraft in Europa ist«. Er sei »nicht mit einer Produktionsweise zu verwechseln«, sondern soll sich offenbar damit bescheiden, als politischer Diskurs in der kapitalistischen Produktionsweise ein Element von deren Regulation zu sein. Vielmehr nicht einmal das: »Bei der Komplexität der heutigen Welt müssen wir wissen, dass wir es mit etwas durch und durch Neuem zu tun haben«, jedenfalls nicht mit dem »von Marx beschriebenen Kapitalismus«. Den Tod des Marxismus bemisst er an unserem Entferntsein »von der Revolution, von der Diktatur des Proletariats und vom Klassenkampf, auf den allein man die Geschichte nicht reduzieren darf, so wichtig er auch gewesen (!) ist« usw.
Nur konvertierte Kommunisten können so sprechen. Sie liefern der rechten Sozialdemokratie den ideologischen Zement.
2. Juni 1991
Das Ende der DDR eine »Implosion« (Kossok).
Der konstanzer Jurist Bernd Rüthers (»Im Zwischenreich der Gleichen«, FAZ, 18.5.91) denkt über die »Verbände« (die Interessengruppen) nach, deren »Herrschaft« Theodor Eschenburg in den 50er Jahren angeprangert hat. Barbier im Vorspann dazu (und ich stelle mir vor, wie der Analytiker des »integralen Staates«, Gramsci, das gelesen haben würde): »Mit den polaren Begriffen ›Staat‹ und ›Bürger‹ ist die Mechanik der politischen Willensbildung […] nicht zu fassen« (einigen Schmu lasse ich weg). »Die gelebte Verfassung stützt sich auf Elemente und Verbindungsstücke zwischen diesen Polen – auf Information und Wissensübertragung, СКАЧАТЬ