Название: Jahrhundertwende
Автор: Wolfgang Fritz Haug
Издательство: Автор
Жанр: Историческая литература
isbn: 9783867548625
isbn:
29. Juli 1991
Unserer Initiative zur Rettung der MEGA war ein zwar begrenzter, aber immerhin vorläufiger Erfolg beschieden. Bis Ende des Jahres gibt die Treuhand entsprechende Mittel (für den Verein) frei.
Dämonisierend dagegen gewandt hat sich der mainzer Soziologe Helmut Schoeck in der Welt vom 14. Juli: »Marx, krankhaft herrschsüchtig und hasserfüllt, säte eine Saat, die genauso aufging, wie er es gewollt hatte, in totaler Destruktion. Wie es jedoch nach der Zerstörung aller vorgefundenen Lebensgrundlagen weitergehen soll, darüber steht bei Marx und Engels nichts.« Groteskes Gekreische. Gegen den Vorschlag des Ministers Ortleb, eine kritisch-marxistische Beschäftigung mit dem ML irgendwo pflegen zu lassen, denn: »Die Wiederentdeckung des Marxismus im Westen als ›Lehre des Heils‹ vor 20 Jahren in der 68er-Bewegung war von ein paar Marxismus-Lehrstühlen in Westdeutschland aus inszeniert worden. Will Minister Ortleb davon unbedacht [?] eine Wiederholung herbeireden?« – Schoeck sollte selbst mal versuchen, eine solche Bewegung von seinem Lehrstuhl aus zu inszenieren. Wir, die wir daran aktiv beteiligt waren, verfügten jedenfalls über keine Lehrstühle.
30. Juli 1991
Am 2.7. hat Jakowlew in der Iswestija die KPdSU abgeschrieben. An ihren Strukturen habe sich, besonders in der russischen Partei, nichts geändert. »Nur die alte Faust, eingebaut in das System Stalins und Breschnews«, sei weg. Merkwürdig, wie J. die Gegner des Übergangs zu kapitalistischer Marktwirtschaft, unter denen doch sicher auch aufrichtige Sozialisten sind, auf den einzigen gemeinsamen Nenner des »grenzenlosen Egoismus« bringt. Andererseits kann ich ihm nicht widersprechen, wenn er die Revolution-von-oben als erschöpft und ihre Reserven als ausgelaugt beschreibt sowie vorhersagt, mit hoher Wahrscheinlichkeit sei mit Versuchen zu rechnen, »mit den Ideen der Perestrojka und ihren Initiatoren abzurechnen«. Insgesamt ein Aufruf zur Gründung einer »Demokratischen Partei«.
9. August 1991
Im Doppelsinn ›historischer‹ Fehler, das Neue nicht aus dem Vorhandenen schaffen zu wollen. So in der SU: aus den vorhandenen Entitäten und Akteuren des Wirtschaftens müssten die neuen geschaffen werden. Privatkapitalismus zu wünschen töricht. Schon wieder ein Großer Sprung, aber diesmal rückwärts-vorwärts, zunächst das Gewesene überspringend, dann das Werden.
19. August 1991
Heute Nacht um vier wurde Gorbatschow durch einen Putsch abgesetzt. Morgen wäre der neue Unionsvertrag unterschrieben worden. Ausnahmezustand. Möglich, weil Gorbatschows Position längst dishegemonial geworden war. Die Zwangseinheit wird das reorganisatorische Moment verspielen und Zerfall und Bürgerkriege ernten.
*
Während in Moskau der Umsturz lief, verbrachte ich nichtsahnend meine seit Wochen erste Nacht ohne ›philologisches‹ Zwangsdenken. Band 2 der Gefängnishefte ist fertig, nur noch die letzten Korrekturen sind zu kontrollieren. Morgen geht das Buch in die Druckerei.
Gestern Abend besuchte mich Michail Nelken. Hat seit 1980 im Akademieinstitut für Philosophie gearbeitet, in der Abteilung für Geschichte des Marxismus. Dort wurde man in Ruhe gelassen. Nur als ein Kollege über August Thalheimer arbeiten wollte, griff Buhr ein, der Komplikationen voraussah: das Thema war zu parteinah. Dennoch glaubte Nelken 1980, sich in der Epoche geirrt zu haben, als er im Zuge des Parteiverfahrens gegen Ruben den Stalinismus in Aktion erlebte, und zwar nicht etwa den von oben, sondern den verselbständigten eines sozialen Mechanismus, wie er innerhalb der Parteigruppe spielte.
*
Katja Maurer vom »Freitag« bestellte einen Artikel zum Staatsstreich. Zum Glück ist der Gramsci in der Druckerei, und ich nehme den Auftrag an. Aus Genf ruft Helen Brücker vom »Vorwärts« an und will den Artikel ebenfalls.
Keine Kremlastrologie, aber doch Rätselraten um Gorbatschow, hat er im Glashaus gelebt?
Auf dem Spiel: Die um ein Haar erreichte Ablösung des Zentral-Superstaats durch eine von den Republiken eingegangene lockere Union. – Zivilgesellschaftliche Ordnung mit individuellen Menschenund Bürgerrechten, unabhängig von ethnischen und nationalen Kollektivzugehörigkeiten.
20. August 1991
Die sowjetische »Junta« besteht aus Leuten, die Gorbatschow eingesetzt hat. Selbst Lukjanow, der Vorsitzende des sowjetischen Parlaments (des »Obersten Sowjets«), soll sich angeschlossen haben. Bedeutet dies Vorwegnahme der Absegnung?
Es heißt, Gorbatschows Politik sie in eine »Sackgasse« geraten. Vielleicht ist es umgekehrt, und er hat das objektiv Mögliche, wenn auch nicht das subjektiv Gewollte bewerkstelligt.
Für die FAZ war er schon lange der Mohr, der seine Schuldigkeit getan hat. Von der für heute ursprünglich vorgesehenen, vom Putsch blockierten Unterzeichnung des neuen Unionsvertrags argwöhnt Reißmüller, »die Nationalitätenpolitik, das Verhältnis zwischen Zentralstaat und Unionsrepubliken, die Wirklichkeit der Sowjetföderation, das alles solle wieder so werden, wie es unter Breschnew war«. Doch Gorbatschows »reformerische Nationalitätenpolitik hat die Völker ermutigt, nach jahrzehntelanger erzwungener Stummheit ihre natürlichen Rechte geltend zu machen«. – Was für Euphemismen! Die »vielfältige Wirklichkeit nationalen Bewusstseins und Willens im Reich« ein Faktor, in den die FAZ gewissermaßen gewohnheitsmäßig investiert.
Scheitern eines zivilisatorischen und zivilgesellschaftlichen Projekts. Ein viel größeres Drama, als es zunächst schien. Ich versuchte, an meiner Sicht festzuhalten, die ein sozialistisches Subjekt voraussetzte, ohne mir darüber klar zu werden, wer dies sein könnte.
Gorbatschow zu beseitigen und Jelzin zu lassen, hätte keinen Sinn. Der neue russische Parlamentarismus muss das Ziel sein. Das Parlament von Panzern umstellt. Massenmedien unter Zensur. Ruhe und Ordnung des Polizeistaats. Was der Staat schon immer konnte: Notstandsstaat mit Ausnahmezustand. Restauration von Befehlsverwaltung.
Was ist das Programm der Putschisten? (Engholm: »man muss auch auf die Vernunft von Staatsstreichern setzen können«.) Markt ohne Demokratie? Woher sollen Konsens und Autorität kommen? Notstandsmaßnahmen zur Versorgung. Paradoxe Chance tatsächlicher Besserung vom gegenwärtigen Tiefpunkt aus auf ein Niveau, weit unterhalb des breschnewschen. ›Historisch‹ zum Scheitern verurteilt. Voluntarismus der Unfähigen.
Man muss sich immer wieder neu darüber verständigen, was das Rationale der Perestrojka sein konnte. Nicht das subjektive, sondern das historisch mögliche Worumwillen.
Es sind nicht die Gegner, die »schuld« sind, dass da etwas verloren wurde. Die Auszehrung kam von innen, als historische Unproduktivität.
21. August 1991
Während sich die Armee in Moskau bisher zurückhält, nimmt sie in den baltischen Staaten eine systematische Besetzung vor. Noch in der Nacht hat das Parlament Estlands den Austritt aus der Union erklärt.
Dass Schewardnadse auf der Moskauer Kundgebung zum Kampf gegen die Junta aufrief, zeigt mehr als alles СКАЧАТЬ