Jahrhundertwende. Wolfgang Fritz Haug
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Название: Jahrhundertwende

Автор: Wolfgang Fritz Haug

Издательство: Автор

Жанр: Историческая литература

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isbn: 9783867548625

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СКАЧАТЬ »Man darf nicht zulassen, dass sich unter der Parole der Verteidigung des Sozialismus oder unter irgend einer anderen Parole die Jahre 1937–38, 1952–53 usw. wiederholen.« Sieht eine faschistische Gefahr, »Leute einer gewissen ›braunen‹ oder ›halbbraunen‹ Schattierung, die an die Macht drängen«. Er bekennt sich als Kommunist und artikuliert die sozialistische Perspektive »mit den Zielen, die dem Volk seit Jahrhunderten vorschweben. Das sind soziale Gerechtigkeit, Demokratie, Freiheit, stabile und normale Beziehungen zwischen den Menschen und menschliche Solidarität«. Es könnte sein, dass er die Rechnung ohne das wirkliche Volk macht. Aber unzweifelhaft ist in seiner Position eine stabile Kontinuität zu erkennen. Dagegen hat Jelzin etwas Komödiantisch-Wechselhaftes.

      13. April 1991

      Die gestrige Gesellschafterversammlung des »Argument« wurde geleitet von Horst Meyer, dem neuen Trabi-Geschäftsführer, Chef von »Sachsenring« in Zwickau.

      *

      G als neuer Jaruzelsky? Nein, ungleich tragischer.

      In der FAZ propagiert E. G. Vetter im Anschluss an eine Tagung der Raymond-Stiftung (liberal-konservativer Block) »so etwas wie die Aufforderung zu einer antisozialistischen Vision« auf Grundlage einer »sozial bestimmen Marktwirtschaft«, um »alle Anbiederungs- und Verführungsversuche eines alten und neuen Sozialismus im Keime zu ersticken«. Karl-Dietrich Bracher brandmarkte laut Vetter auf besagter Tagung es als »besonders üblen Trick, wenn Vertreter der gescheiterten totalitären Systeme in den Mantel des ›demokratischen Sozialismus‹ schlüpfen, den sie bis dahin mit brutalen Methoden bekämpft haben.« – Da ist was dran. Aber das Ganze dient einer Mobilmachung auch gegen den authentischen demokratischen Sozialismus, das macht diese Wahrheit zur interessierten Lüge.

      Im Übrigen kommt es genauso, wie ich es schon vor einem Jahr vorausgesagt habe: Mit Geheimdienstaugen und in unveränderter Zielrichtung observieren unsere Herrschenden, was an demokratisch-sozialistischen Tendenzen sich noch regt. Jetzt ist die Gruppe um Land und Brie im Visier; sie werden in der heutigen FAZ von Thomas Rietzschel wieder einmal denunziert, als wären sie Wendehälse.

      14. April 1991

      Swetlana Askoldowa sagte immer wieder: Gorbatschow verliert. Die Leute sind verrückt. Sie verändern sich in ihrem Verhalten zueinander. Gorbatschows unsichere Entscheidungen. Keine greift mehr. Laut Swetlana ist Gorbatschows TV-Verantwortlicher, Krawtschenko, aus dem Journalistenverband ausgeschlossen worden.

      Später kam Wim Wenders dazu, die Zigarre im Mundwinkel selbst dann noch, als er seinen Borschtsch vor sich hatte. Vor drei Tagen habe ich seinen Film »Hammett« zum zweiten Mal gesehen.

      Achim Engelberg erzählte heute von Heinz Pepperle, der seinen Studenten an der Humboldt Universität rät, jetzt für eine ganze Weile immer wieder Heidegger, Hartmann, Husserl und Cassirer zu lesen. – Pepperle wird weiterbeschäftigt.

      16. April 1991

      Besuch Rolf Heckers von der MEGA. Am Telefon war er über-höflich, auf eine ganz veraltete Weise, als lebten wir im Absolutismus und als ginge es um eine Audienz bei irgendeiner Durchlaucht. Er kam fein krawattiert, ich war in Jeans. Gefiel mir aber doch, einer gewissen Sorgfalt im Sprachgestus wegen, an dem mich, ebenso wie an seinem Mund, etwas an Werner Haberditzl erinnerte. Berichtete Einzelheiten darüber, wie die MEGA-Redakteure kaputtgemacht werden. Vom Arbeitsamt als »Nullkurzarbeiter« bezahlt, dürfen sie den Tag nicht an ihrem Arbeitsplatz im Institut verbringen. Hecker hat die Unterlagen nach Hause genommen. Bei Dietz liegen zwei Bände druckfertig; aber die Produktion wurde gestoppt. Ein Trauerspiel.

      Nachdem ich bislang für sie eine Unperson war, soll ich nun ein Darlehen geben, damit die nächsten beiden Ausgaben ihrer Berichte erscheinen können.

      17. April 1991

      Otto Zonschitz erzählte von der Besprechung beim neuen Kultursenator, ›unserem‹ Ulrich Rohloff-Momin. Die Theatermanufaktur hat so gut wie alle gegen sich. Eine unentrinnbare Konstellation. Das eigene Theater für Otto zur tödlichen Falle geworden. Wie schon einmal vor einem Jahr schlage ich ihm vor, ein Stück mit dem einfachen Titel Gramsci auf die Bühne zu bringen und Flagge zu zeigen, falls denn der Untergang tatsächlich unvermeidbar sein sollte.

      19. April 1991

      Von Manfred Wekwerth eine Art Hilferuf. Der Expertenbericht zur Neuordnung der Berliner Bühnen enthält fürs Berliner Ensemble den Kernsatz: »Die Tradition Brechts fortsetzen – die Führung des Theaters als Familienbetrieb beenden.« Er schickt einen Artikel mit seinen Überlegungen zur künftigen Theaterpraxis des BE, den er vor einem Jahr geschrieben hat und der, wie er schreibt, »leider von niemand beachtet worden, also auch nicht veröffentlicht« ist. Er will ihn im Argument veröffentlichen, um es der »Inquisition nicht so leicht zu machen«. Ich finde den Artikel gut, und Frigga veranlasst, dass er noch ins laufende Heft kommt, dass also ein anderer Artikel in letzter Minute wieder herausgenommen wird.

      Die derzeitige Lage tut auf bedrückende Weise gleichsam wichtig mit uns. So viele wenden sich jetzt an uns um Hilfe. Frigga fand heute sogar, Argument wäre der richtige Verlag, um die MEGA fortzuführen.

      20. April 1991

      In der Prawda soll G mit dem »gütigen« Zar Alexander II. verglichen worden sein, der als liberaler Reformer freiwillig auf einen Teil seiner Macht verzichtet hat und schließlich umgebracht wurde.

      Wendezeitgeist. – Im FAZ-Feuilleton kriegt Antje Vollmer drei Spalten, wo sie den »Abschied von einem Traum von Gerechtigkeit durch Gleichheit, der in Wirklichkeit immer missionarische oder totalitäre Züge trug«, ausruft: »Abschied vom sozialdemokratischen Jahrhundert«. Die Grünen als »Spürhunde« der großen neuen Themen, als Laboratorium, dem die großen Parteien ihre Ideen entnommen haben. Die grüne Partei »stellt sich zunehmend als ein Epochenprojekt zur ›Abwicklung‹ alter Ideologien […] dar«. Sonderbare Vorstellung von Politik, die »Abwicklung« ins Wappen der Grünen zu schreiben. Ernst Nolte kriegt Zucker für sein Hochhalten des Nationalen und die Wiederentdeckung des Bürgers. Ich habe den Eindruck, das Bürgertum will Antje, die jetzt aussichtsreich für den Vorsitz der Grünen kandidiert, benutzen, um die PDS wegzukriegen. Oder wäre es so, dass die Rechtswendung der Grünen den Linken nichts anderes übriglässt als die PDS zu wählen?

      Otto Zonschitz lud uns gestern in eine Vorstellung des Wiener Jura-Soyfer-Theaters: »Astoria«, inszeniert von Ilse Scheer. Eine Entdeckung! Hašek und Brecht lassen grüßen, ein aufklärerischer Jux mit dem Staat. Weiß aber nichts von einer hintergründigen Dialektik von notwendiger Utopie und Staat, liefert indes, wenngleich verständnislos, die Anschauung dazu.

      Die Theatermanufaktur in verzweifelter Situation. Angesichts der Hoffnungslosigkeit hat Zonschitz, gegen seinen ursprünglichen Vorsatz, von dem Gramsci-Projekt erzählt. Die Idee zündete sofort, nun ist es beschlossen.

      21. April 1991

      Gestern Abend von Tabori »Weißmann und Rotgesicht«. FH hält das für ein Randgruppenstück bzw. eines über Verlierer, weil ein Jude, seine spastische Tochter und ein Indianer die Akteure sind. Ich finde das Stück absurdistisch.

      Situation: in der Irre, in der Wüste, unterm wartenden Geier. Aber es gibt einen Ausweg auf dem Muli, und am Schluss reitet der Indianer mit dem Mädchen davon (freilich in eine Welt, von der wir spüren, dass sie СКАЧАТЬ