Название: Jahrhundertwende
Автор: Wolfgang Fritz Haug
Издательство: Автор
Жанр: Историческая литература
isbn: 9783867548625
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In der Wochenendbeilage der FAZ ein hintergründiger Erlebnisbericht von Sonja Margolina über eine riesige Demonstration gegen Gorbatschow und für Jelzin. Sonderbare Perspektive, die den Phänomenen mit einem Ja begegnet, in dem sie sich fangen und verlieren wie in einer Falle. Und sonderbare Kategorien. So die des Ästhetischen: »Gorbatschow […] hat die Ästhetik des letzten Schritts der Rettung des Imperiums und dem Machterhalt geopfert, nun verliert er wohl beides.« Die Demonstration schildert die Margolina als einen Karneval, den vor allem die 50 bis 55-Jährigen betreiben und dem vor dem orgiastischen Höhepunkt die Luft ausgeht. Sie schildert sie als zum Absterben verurteilte Klasse, die bewusstlos am eigenen Untergang arbeitet: »Die Menschen sind überwiegend gut gekleidet: in Pelz, Lamm-Mänteln und schicken Mützen. Es sind keineswegs arme Leute, die ungeachtet der Wirtschaftskrise über ihre Verhältnisse leben. Sie sagen ›nein‹, aber ahnen nicht, was auf sie zukommt. Sie haben das Wort ›Abwicklung‹ noch nicht gehört und können sich kaum vorstellen, dass ihre tollen Pelze vielleicht die letzte Pracht in ihrem Leben bleiben werden. In Moskau, der Residenzstadt, ist die Hälfte der Berufstätigen einfach überflüssig – ein offenes Geheimnis. Doch man kann es sich kaum vorstellen. Würden sie hierherkommen, wenn sie durchschauen würden, welches Schicksal ihnen Jelzins Programm der Privatisierung bereiten wird? ›Freiheit‹ – rufen sie. Freiheit von der Arbeit, vom gewohnten sozialen Status, Freiheit für die anderen – die Jungen, Arroganten, Schlauen, die an ihre Stelle treten werden.«
Die Jungen schildert sie als konformistisch, darauf bedacht, für sich etwas aus der Gesellschaft herauszuschlagen. »Von kleinen Randgruppen abgesehen, ist die heutige Jugend politisch indifferent und infantil.«
31. März 1991
Aggressive Naivität. – Schirrmachers Leichtigkeit kommt mir vor wie die Folge einer Gewissenlosigkeit, seine schnelle Intelligenz wie die Folge einer Abwendung. Sein Artikel über Andrej Sacharows Memoiren (in der Literaturbeilage der FAZ vom 25.3.) geradezu »amerikanisch« in seiner aggressiven Naivität. Selbstverständlicher Standpunkt der Sieger als der Guten. Die Macht im eigenen Rücken unsichtbar haltend, zeigt er die böse Macht stets beim Andern (hier Sowjetrusslands). Schönreden der »Dissidenz« von einem, dem sie nie in den Sinn kommt. Die Macht, der er dient, ist nicht besser, nur besser funktionierend. Mir scheint fast, er glaubt an das Reich des Bösen. Sollte er das tun, wäre er böse.
In derselben Literaturbeilage feiert Rüdiger Bubner den »intellektuellen Patriotismus« Manfred Riedels und macht den »Verfassungspatriotismus« madig, weil dieser die Nation verfehle. Daneben beweihräuchert Mattenklott Enzensbergers manieristische Absagelyrik.
Das Erstaunlichste ein langer und aufwendig geschriebener Artikel von Gustav Seibt über den Historiker Ernst Kantorowicz und dessen zwei Leben, da er nach der Auswanderung 1933 sich eine neue Wissenschaftlerkarriere in den USA aufgebaut hat. Seibt beschreibt mit beflissener Lust dessen georgeschen Hymnus auf den Staufenkaiser Friedrich II. (ein Buch von 1927, das Hitler mehrfach gelesen haben soll und das Goebbels Mussolini geschenkt hat). Es ist hochgradig fiktional in seiner Beseitigung aller Kontingenz (der Held ist stets und in jedem Detail wesentlich) oder etwa in seiner imaginären homoerotischen Wunscherfüllung einer »bis ins Alter knabenhaften«, aber desto männlicheren Körperlichkeit. Rudolf Borchardt hat das 1930 als »Umfälschung der Weltgeschichte auf Georges Posen« verspottet, die zeigen wolle, »wie George als Hannibal die Schlacht bei Cannae schlägt, während George als Scipio bei Zama den Punier abtut und dann als Cäsar ostwärts und als Ariovist westwärts den Rhein überschreitet« usw. Dreißig Jahre später dann geradezu das Gegenbuch, das just das Fiktionale in der Geschichte behandelt: Die zwei Körper des Königs. Seibts Lob unecht, weil das Lobenwollen durchlugt. Kantorowicz ist eben Jude. Hat zudem den Deutschen das Allerheiligste bereitet, den Kyffhäuser, danach sogar noch amerikanische Ehren auf sich gehäuft. So einer muss heimgeholt werden. Hier kann man studieren, wie das Pantheon erneuert wird.
1. April 1991, Ostermontag
Detlev Rohwedder, der Präsident der »Treuhand«, erklärt »eine reinrassige, gedanklich saubere und schnörkellose Marktwirtschaft« in der vormaligen DDR für undenkbar. Er sagt von sich, »aus einem gewissen patriotischen Eros heraus« die Stelle angenommen zu haben.
3. April 1991
Die RAF betreibt geradezu chirurgische Kriegsführung in der symbolischen Ordnung von Staat und Wirtschaft. Nun den Chef der »Treuhand«, auf die sich unser aller Aggressionen gerichtet hatten. Auf teuflische Weise erfüllt sie unbewusste kindische Wünsche. So verhindert sie deren politische Reifung. Rohwedder hat zur Mannschaft von Helmut Schmidt gehört. Sozial-Technokrat, Sanierer, nicht Privatisierer.
4. April 1991
Kathrin A. ist gespalten: Eine Hälfte von ihr trauert der untergegangenen Perspektive nach, »Staatskundelehrerin« der DDR zu werden. Eigentlich eine abscheuliche Vorstellung. Auf mich als Thema ist sie von einem Dozenten angesetzt worden, der sich inzwischen vom Marxismus abgewandt hat. Nun könnte es sein, dass sie über ihr Zufallsobjekt an diesem hängen bleibt.
In der FAZ zeichnet Reißmüller das Bild von einer »grotesken Rück-Wende« Gorbatschows. Bei den Leuten wachse das Verlangen nach Ruhe und Ordnung, Politikmüdigkeit, Überdruss an Demokratie und Öffentlichkeit. Gegen den »Gorbatschowismus im Westen, der sich zusammensetzt aus Unterwürfigkeit, Lust an albernem Personenkult und einem verständlichen Bedürfnis, zu vertrauen und Hoffnungen zu hegen«. Was Reißmüller an G stört: »Seine sozialistischen Anschauungen (wahrscheinlich mehr Gefühle), die früher abblätterten, festigen sich wieder.« Immerhin lässt er auch eine Spur der Notwendigkeit sozialistischer Politik sehen: Bei dominanter Privatisierung käme es zu einer gigantischen, zig Millionen erfassenden »Massenarbeitslosigkeit, die sozial abzufedern der Sowjetstaat kaum imstande wäre«.
9. April 1991
Renate Wahsner, Philosophieprofessorin am Einstein-Laboratorium, stutzte mir meine Laienvorstellungen von neuer Physik arg oberlehrerhaft zurecht. Versicherte immer wieder, dass es hier um »Messen und Rechnen« geht, nicht um Bedeutungen, und dass man sich diesen nur mit größter methodologischer Vorsicht nähern dürfte. Ich hatte gefragt, wie Engels’ Projekt im Lichte der neuen Physik weiterzudenken sei. Wahsner ging sofort auf die Hinterbeine. Ich kriegte nicht viel mehr mit, als dass es da eine enorme Anlage aus Schutzvorkehrungen gab.
10. April 1991
Fast zwei Stunden lang am Prenzlauer Berg nach der Kneipe gesucht, in deren Hinterzimmer laut Dietmar Wittich das MEGA-Treffen stattfinden sollte. Fragte in jeder Kneipe, an jeder Würstchenbude, die Bierfahrer, Taxisten, Passanten, in der Sternwarte und im Kino Odyssee. Und bei einer Odyssee ohne Troja und ohne Ithaka blieb es, nachdem ich mich von einer Richtung in die entgegengesetzte umherschicken hatte lassen. Kein Glück bei diesen Begegnungen, Ostberlin ist immer noch Ausland, und diese ehemaligen Kommunisten verblüffen mich durch die Kombination aus Verschwörertum und Nicht-zu-Ende-Organisieren.
12. April 1991
Von Novosti ein paar Erklärungen, die Gorbatschow auf der »1. Parteikonferenz der Streitkräfte der Sowjetunion« (offenbar wurde hier eine neue politische Bühne eröffnet) abgegeben hat: Kühl und knapp СКАЧАТЬ