Название: Als Lehrer in Gotha/Thüringen 1950–1990
Автор: Heinz Scholz
Издательство: Автор
Жанр: Историческая литература
isbn: 9783867775649
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Im Laufe des Schuljahres 1954/55 entschieden wir uns, meine Frau und ich, nach „drüben zu gehen“, und wir wollten vordem schon darauf hinarbeiten. Ich begann, Bücher, die mir wichtig waren, nach dem Westen zu schicken. Hauptsächlich nach Hanau an Walter. Meine Frau begann notwendige Wäsche oder uns wichtige Utensilien zum Wegschicken oder Mitnehmen auszuwählen. Das alles natürlich sehr geheim und unauffällig. Es war dann so gut wie ausgemacht: In den Osterferien 1955 fahre ich nach Frankfurt und Hanau, und meine Frau kommt dann mit unserem einjährigen Sohn im Sommer nach.
In der Schule plagte mich das schlechte Gewissen. Wenn ich so Tag für Tag vor meinen Schülern stand, mich ihnen wie immer zuwendete und mich für sie verantwortlich fühlte, da schien mir mein heimlicher Plan fast wie ein „Verrat“. Ist es richtig, wenn du sie im Stich lässt? Ich hörte nicht auf, mich das zu fragen.
Inzwischen hatte man mich zum stellvertretenden Schulleiter gemacht. Unser bisheriger Schulleiter, ein tüchtiger Mann, war schwer krank geworden: Lungentuberkulose. Er musste sofort auf unbestimmte Zeit in die TBC-Heilstätte. Nun wurde der bisherige Stellvertreter zum Leiter der Schule ernannt, und das Kollegium sollte dem Schulrat einen Stellvertreter vorschlagen. Ich weiß nicht mehr – wie oder wieso, man kam auf mich. Die Lehrerkonferenz schlug mich als stellvertretenden Schulleiter vor, und ich wurde vom Schulrat bestätigt. Nicht dass ich mich darüber gefreut hätte, nein, war ich doch nie auf Karriere aus und wollte wirklich nichts anderes sein als ein vollwertiger Lehrer. Doch ich hatte dann zugesagt unter der Bedingung, dass man mich sofort von dem Posten als Parteisekretär entbinde.
Nun kam das Frühjahr. Mit meinem primitiven Fotoapparat schlich ich eines Nachmittags in der Schule umher und machte noch einmal Aufnahmen von der Aula, von Klassenräumen und von unserem Schulgebäude – mit wehmütigem Gefühl. Dann, zu Beginn der Osterferien, kam der Abschied von meiner Frau und unserem Sohn. Das tat weh, obwohl wir uns unserer Vereinigung im Sommer „drüben“ sicher waren …
Bei meinem Freund in Frankfurt angekommen, begann ich sogleich alles in Angriff zu nehmen. Zuerst fuhr ich nach Wiesbaden ins Kultusministerium, legte meinen Antrag und meine vorbereiteten Unterlagen vor und bat darum, mich nach entsprechender Prüfung in den hessischen Schuldienst einzugliedern. Man besah sich die Schriftstücke und natürlich auch mich, teilte mir sogleich (wie erwartet) mit, dass ich zuerst ein Flüchtlingslager durchlaufen müsse und danach, wenn alles geprüft sei, ich noch ein Zusatzstudium von zwei Semestern an der Pädagogischen Hochschule in Weilburg absolvieren müsse, bevor ich als Lehrer eingesetzt werden könne. Man war freundlich und bestimmt.
Eberhard versprach mir als Hilfe, mich nach dem Lageraufenthalt – in der Warte- und Übergangszeit – in der Fabrik eines schlesischen Strumpffabrikanten aus Hirschberg unterzubringen. „Ich hab’ schon mit ihm geredet, er hilft gern einem Landsmann und stellt dich ein – irgendwo in der Verwaltung!“
Also jetzt ab nach Gießen, in das dortige Flüchtlingslager. Mit dem Koffer in der Hand setzte ich mich in Frankfurt in den Zug und fuhr nach Gießen. Dort auf dem Bahnhof sagte man mir: „Das ist nicht weit, wenn Sie den Güterbahnhof entlang gehen, treffen sie am Ende bald auf das Flüchtlingslager. Es ist nicht zu übersehen.“
Und ich sah es schon von weitem, ein schmutzig-grünes Barackenlager. Oh je, wieder so ein altes Arbeitsdienstlager aus der Nazizeit. Zaghaft und eigentlich schon widerwillig näherte ich mich dem Schlagbaum. Daneben ein Wachhäuschen und darin der Pförtner. Durch das offene Fenster sprach er mich an. Als Flüchtling wolle ich mich melden und fragen, wie hier so alles vonstatten ginge. – Meinen Personalausweis verlangte er zu sehen, dann wies er auf ein Büro hin, gleich in der ersten Baracke. Ich zögerte, wollte Genaueres wissen: Wie lange das alles dauere im Lager und wann ich wohl von hier wieder heraus käme. Er sagte – es klang ungehalten – ich müsse mit einem Aufenthalt von einem Vierteljahr rechnen … in etwa! Manchmal ginge es ja schneller, manchmal länger, je nach dem, ob alles glatt gehe oder ob sich Probleme ergäben. Günstig wäre, wenn man schon eine Wohnunterkunft nachweisen könne, vielleicht bei Verwandten. – Und wie man im Lager untergebracht würde? Nun ja, wenn Einzelperson, dann meistens zu etwa 4 Personen in einem Zimmer, ganze Familien allerdings hätten ihren eigenen Raum für sich. Selbstverständlich seien da auch ordentliche Waschräume vorhanden, auch für Verpflegung und Essen sei gesorgt. –
Ich muss eine ganze Weile verharrt haben, ohne was zu sagen, tat auch wohl so, als überlegte ich. Da traten noch andere Leute heran, und ich ging zur Seite, froh, Zeit zu gewinnen. Mit bangen Blicken starrte ich nun auf die vor mir liegende Barackenwelt, die sich in meinen Gedanken plötzlich bildhaft verwandelte: Das Bild meines Liegnitzer Arbeitsdienstlagers von 1942 stieg vor mir auf, schon gleich das vom Barackenlager auf dem Truppenübungsplatz Ohrdruf von 1943, und dann blieb ich haften an einem noch schlimmeren Bild: Da sah ich vor mir die schrecklichen Läusebaracken unseres Gefangenenlagers von Stalingrad 1944/45. Es war wie ein Trauma, was mich überfiel, und ich schien wie gelähmt. – Aber das ist doch was anderes hier! – Ja, schon, aber ich kam nicht weg von diesen Bildern. Indem ich sie verdrängen wollte, kam mir Gotha in den Sinn: Ilse mit unserem einjährigen Eckehard zu Hause. Wie soll das alles werden, ich hier in diesem Lager „gefangen“ und allein, sie mit dem Kleinen dort? Das alles und mehr ist mir durch den Kopf gegangen damals, und ich war unfähig, mich zu entschließen und den Schritt zu wagen – hinein ins Lager. – Ich weiß, ich kam mir miserabel vor, als ich unverrichteter Dinge vor dem Schlagbaum umkehrte und mit dem nächsten Zug zurückfuhr zu meinem Freund nach Frankfurt. Der war ärgerlich, konnte mich nicht verstehen. „Da musst du einfach durch, wie viele andere auch!“ und lauter solche Reden. „Überleg’ dir das noch mal gründlich!“ und so fort …
Am nächsten Tag bin ich heimgefahren nach Gotha – mit dem Zug. Schnell, möglichst schnell sollte das gehen. Deshalb hatte ich diesmal mein Fahrrad im Packwagen aufgegeben.
Mein Frau war – über alle beschlossene Pläne hinweg – froh, mich wiederzuhaben. Und ich hielt ziemlich glücklich wieder meinen kleinen Sohn im Arm. Später ist mir bewusst geworden, dass neben meinem Baracken-Trauma und der familiären Ungewissheit mich unbewusst noch ein anderes Bild verunsichert hatte: Die schon erwähnte lateinisierende Akademikerrunde am Nebentisch in jenem rheinischen Restaurant ist mir noch oft in den Sinn gekommen. Dieses Bild ließ mich daran erinnern oder mich in meinem damaligen Zustand glauben machen, dass meine niedere Bildung und Ausbildung für den Westen womöglich nicht ausreichte, dass ich unterliegen könnte drüben: als „Neulehrer“ vor jenen unbehelligten Studienräten nach altem Schrot und Korn.
Es war das erste Mal, dass ich zu mir sagte: Ob du es wahrhaben willst oder nicht, du bist ein Kind dieser DDR. Auch wenn es nicht so recht „deine“ DDR ist! – So ließ ich meinen Plan „abzuhauen“ erst mal fallen. – Jahre später, in schwierigen Situationen oder zugespitzten Fällen, habe ich deswegen mit mir gehadert.
Wieder in Gotha – in der Löfflerschule wie bisher
Die tägliche Arbeit in der Schule, die Familie und natürlich СКАЧАТЬ