Название: Die letzte Sinfonie
Автор: Sophie Oliver
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Ein viktorianischer Krimi mit den Ermittlern des Sebastian Club
isbn: 9783948483340
isbn:
Nun setzte sich Crispin vollends auf und Freddie schob die Obstschale beiseite, um näher an Doktor Pebsworth zu rutschen. Er hatte ihre volle Aufmerksamkeit. Einzig Lord Philip blieb entspannt sitzen, den Rücken an den dicken Eichenstamm gelehnt, und beobachtete seine Kollegen mit wohlwollendem Gesichtsausdruck.
Um vorlesen zu können, brauchte der Doktor seinen Kneifer, dann strich er den Zettel glatt.
»Carl Belami wurde mit Arsen vergiftet, wie ich es vermutet hatte. Was Woodards Theorie von Abhängigkeit und Unfall eventuell den Rücken stärkt.«
»Ich habe noch nie gehört, dass jemand arsensüchtig ist«, sagte Freddie. Soviel sie wusste, war Arsenik Jahrhunderte lang das Mittel der Wahl für Giftmorde gewesen, weil es nicht nachweisbar war. Erst vor etwa sechzig Jahren hatte ein Chemiker, dessen Namen sie sich nicht gemerkt hatte, eine Nachweisreaktion entwickelt. Weshalb sollte jemand freiwillig das Gift zu sich nehmen?
Doktor Pebsworths Wangen röteten sich. Er war in seinem Element. »Ein wenig bekannter Umstand, aber das gibt es. Vor Jahren hat mir ein Kollege von Arsenessern in abgelegenen Berggebieten des Österreichischen Kaiserreiches berichtet. Dort nehmen die Leute kleine Dosen des Gifts als Aufputsch- und Allheilmittel. Natürlich hat das langfristig verheerende Folgen, aber es gibt nichts, was sich der Mensch nicht zuführt, wenn es einen Rauscheffekt hat.«
»Faszinierend«, bemerkte Crispin.
»Nicht wahr? Aber zurück zu unserem Toten. Dass er vor dem Konzert getrunken hat, ist korrekt, Brandy, um genau zu sein. Aber meiner Meinung nach erfolgte die Vergiftung nicht plötzlich, was einen Unfall ausschließt, sondern über einen längeren Zeitraum, denn in seinem Magen fand der Pathologe Schleimhautdefekte, die Woodard als beginnende Magengeschwüre interpretiert – entgegen Doktor Haddocks Empfehlung. Ich glaube, dass sie auf die Arsenvergiftung zurückzuführen sind. Und bevor Sie fragen – Carl Belami war sicherlich kein Arsenesser, das wäre abstrus. Wenn er sich berauschen oder anregen wollte, hätte er bequem Zugang zu weniger schädlichen Substanzen. Immerhin lebte er in den Vereinigten Staaten und nicht in einem Bergdorf fernab jeglicher Zivilisation.« Er gestikulierte angeregt. »Vermutlich wurden Carl Belami mehrere Dosen des Gifts verabreicht. Relativ hohe, er hatte sicher Beschwerden. Bis hin zur letzten, tödlichen, am Abend des Konzerts, die sich hätte gut in einem Glas Brandy verstecken lassen.«
Freddie griff nach einer Weintraube. »Was wissen wir sonst noch?«
»In Mister Belamis Trompetenkoffer wurde ein Flachmann mit Brandy gefunden. Der war giftfrei.«
»Das will nichts heißen. Im Tumult nach seinem Zusammenbruch hätte vermutlich jeder der anderen Musiker die Flasche austauschen können. Zumal die Koffer der Instrumente alle hinter der Bühne aufbewahrt wurden.«
Pebsworth nickte zustimmend, bevor er weitersprach. »Der Tote war bei seinen Kollegen nicht beliebt. Das schließt der Chief Inspector aus den bisherigen Vernehmungen. Lediglich mit einem Posaunisten namens Jonah Hillwood schien er befreundet gewesen zu sein. Und dann ist da noch etwas.« Der Doktor faltete den Zettel ordentlich und steckte ihn wieder weg, nahm den Zwicker von der Nase und sah in die Runde. »Es ist lediglich eine Vermutung, nicht mehr als eine Ahnung, der ich aber unbedingt nachgehen muss. Dafür ist es wieder einmal notwendig, den Leichnam zu untersuchen. Was dieses Mal nicht sehr schwierig werden dürfte und ausnahmsweise bei Tageslicht stattfinden kann, denn Scotland Yard hat ihn freigegeben. Er liegt mittlerweile beim Bestatter und wartet darauf, dass jemand die Überführung zurück in die Vereinigten Staaten bezahlt.«
Freddie, die sich gerade eine weitere Traube nehmen wollte, hielt inne. »Darf ich mitkommen, Doktor Pebsworth? Sicherlich wird man uns einen Blick auf den Toten nicht verwehren, wenn wir zum Beispiel behaupten, für seine Überführung aufzukommen.«
»Normalerweise begleite ich den Doktor bei derartigen Leichen-Vorhaben«, protestierte Crispin. Aber Freddie ließ sich nicht beirren. Dieses Mal war sie dran.
Statt sich in einem Nacht-und-Nebel-Einsatz heimlich Zutritt zu verschaffen, betraten sie also am späten Nachmittag die Whitlock and Dods Funeral Company, wo sie von Sherman Dods höchstpersönlich begrüßt wurden. Freddie hatte mit einem vertrockneten älteren Herrn gerechnet und war überrascht, dass es sich bei Mister Dods um einen äußerst attraktiven Mittdreißiger handelte, groß, dunkelhaarig und mit pietätvoll gesenkter Stimme.
»Wenn Sie mir bitte nach hinten folgen wollen.« Er wies auf den Durchgang, der zu einem fensterlosen Raum führte, in dem der Tote aufgebahrt im offenen Sarg lag. Zwei hohe Messingleuchter mit brennenden Kerzen standen rechts und links daneben. An der Decke hing ein schwarzer Baldachin mit goldener Einfassung und Troddeln an den Ecken. Und einer Räucherschale entströmte das Aroma von Salbei, Rosmarin und Lavendel, was für eine stickige Atmosphäre im viel zu warmen Zimmer sorgte. Das sicherlich gut gemeinte Raumparfüm vermochte den eigenartigen Geruch nicht vollständig zu übertünchen, der bei Freddie Übelkeit aufkommen ließ. Wahrscheinlich handelte es sich um eine Mischung aus verschiedenen Einbalsamierungschemikalien, aber sie redete sich ein, es wäre der Geruch des Todes. In sich horchend meinte sie gar, süßliche Verwesung auf der Zunge zu schmecken. Rasch presste sie ein Taschentuch vor Mund und Nase.
»Trauern Sie nur. Es ist ganz normal, am Sarg von Gefühlen übermannt zu werden. Standen Sie einander sehr nah? Ich dachte, Mister Belami wäre nur auf Durchreise in London gewesen? Übrigens sehr lobenswert von Ihnen, den Verblichenen in seine Heimat zu überführen.« Der Bestatter wiegte auf den Hacken vor und zurück.
Doktor Pebsworth warf Freddie einen alarmierten Seitenblick zu. Sicher stellte sich Crispin nie derart an. Tapfer trat sie näher an den Sarg und steckte das Taschentuch wieder weg.
»Miss Wesbrook ist ein sehr gütiger Mensch«, erklärte der Doktor salbungsvoll. »Und mit großem Mitgefühl gesegnet.« Nach einem Blick auf den Toten bemerkte er: »Schön haben sie Mister Belami vorbereitet. Ich habe nur noch einen letzten Wunsch. Seien Sie bitte so freundlich und nehmen Sie seinen Bart ab.«
»Wie bitte?« Mister Dods blinzelte.
»Ich hätte gern, dass sein Gesicht glattrasiert ist.«
»Äh. In Ordnung. Ich werde es vor der Überführung erledigen.«
»Machen Sie es sofort, bitte.« Pebsworth zückte eine Banknote und drückte sie dem Bestatter in die Hand. Dem war die Situation sichtlich unangenehm, aber er ging ohne ein Wort hinaus und kam kurz darauf mit Rasiermesser und Seife zurück.
»Wollen Sie zusehen?«
Sicher wäre es ihm lieber, sie würden hinausgehen und ihn seine Arbeit erledigen lassen, aber der Doktor bestand darauf, anwesend zu bleiben.
Achselzuckend breitete Mister Dods ein Tuch über den Anzug des Toten und seifte dessen Gesicht ein. Wenn er verwundert war, gab er sich Mühe, es zu überspielen. Allerdings hatte er in seinem Geschäftsfeld sicherlich schon Abstruseres erlebt als den Wunsch nach einer Leichenrasur.
Freddie stand mit weit aufgerissenen Augen dabei und sah zu, wie Sherman Dods fachmännisch und ohne mit der Rasierseife zu kleckern, den Vollbart entfernte. Die Haut darunter leuchtete gräulich blass.
Mit einem СКАЧАТЬ