Название: Rattentanz
Автор: Michael Tietz
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Edition 211
isbn: 9783937357447
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Kiefer nickte und drückte auf seinen Zündschlüssel. Auf dem dunklen Parkplatz vor der Wirtschaft, in den Fenstern standen Kerzen, die gespenstisch flackerten, blitzten die Blinker seines Wagens zweimal auf und die Zentralverriegelung klackte.
»Also los, steig ein«, und zu Bubi: »Wir sehen uns morgen.«
Kiefer und Susanne fuhren langsam den steilen Asphaltweg auf das Hardt hinauf. Das Fernlicht des Sportwagens schnitt für sie einen kleinen Teil der Dunkelheit aus, ein ständig wechselnder Scherenschnitt, schwarzes Papier mit einem kleinen Loch, das sich bewegte. Susanne hielt die Hände im Schoß. Schweigend saß sie neben Kiefer und suchte nach ihrem Mann.
Der Pick-up tauchte in dem Moment kurz im Scheinwerferlicht auf, als Kiefer durch ein Schlagloch fuhr und sein Wagen aufsetzte.
»Halt! Da war er, glaub ich!«
Kiefer setzte zurück, dann schaltete er den Motor ab. Im Xenonlicht vor ihnen schlief Faust mit offenem Mund, eine leere Flasche in der Hand, und schnarchte.
»Ich glaub, der hatte ein Bier zu viel«, konstatierte Kiefer und kickte die Kronkorken unter dem Fahrerfenster zur Seite.
Faust wurde kurz wach, als sie ihn mit vereinten Kräften − Kiefer zog, Susanne schob − auf den Beifahrersitz bugsierten. Dort angekommen, drehte er sich auf die Seite, legte die Hand unter seine Wange, schmatzte zufrieden wie ein kleines Kind und schlief weiter.
»Danke, Martin. Ohne dich hätte ich das nie geschafft.«
»Lässt ihn am besten im Auto schlafen heute Nacht.«
Susanne schien einen Moment über Kiefers Worte nachzudenken. Sie stand regungslos da und ihr Blick wirkte leer. Wenn man sich mit ihr unterhielt, war es manchmal, als könne man den Weg des eben Gesagten durch ihren Kopf verfolgen. Ein Satz kletterte durch Susannes Ohr in ihren Kopf. Nach wenigen Zentimetern musste dann die erste Schaltstelle sein, ein erster Filter, an dem die verschiedenen Wege abzweigten, die Problem, Witz oder Smalltalk hießen. Hier, in Susannes Augen konnte man förmlich ablesen, welche Mühe es sie kostete, das Gehörte einer Kategorie zuzuordnen, hier also zögerte das Gesagte einen Moment, dann war die Wertung geschafft und der Satz raste weiter, weiter bis zur zweiten Station. Auf der Witzstraße ging es nun um Differenzierungen wie Ironie, Satire, Zoten. Probleme mussten sich einer Dringlichkeitswertung unterziehen, die vielleicht von eins bis zehn unterschied. Demnach auch zehn neue Wege. In diesen Momenten war die Anstrengung, das Gehörte zuzuordnen, in Susannes Augen regelrecht greifbar. Was bei anderen ein routinierter Automatismus war, schien bei ihr bewusste Arbeit. Anstrengende Arbeit. Sehr anstrengende Arbeit. Hatte das Gehörte schließlich drei oder vier Schaltstellen hinter sich gelassen und war so weit eingeteilt, dass sie es verstand, öffnete sich in ihr eine kleine Antwortschublade mit der entsprechenden Reaktion, verbal sowie in Mimik und Gestik. Dieser Vorgang dauerte zwei, drei Sekunden, bei komplizierteren Botschaften aber auch deutlich länger. Aber irgendwann löste sich ihre Starre und sie antwortete. So auch jetzt.
»Frieder im Auto lassen? Die ganze Nacht?« Dann hätte sie allein in dem breiten Bett schlafen müssen, ohne seine gewohnten tiefen Atemzüge, ohne sein Schnarchen. Allein mit ihrer Angst, wach und ein sam im Dunkeln. »Kannst du mir nicht noch helfen, ihn schnell ins Haus zu tragen? Bitte, Martin.« Kiefer zögerte einen Moment. Es war bereits nach elf und er wollte in sein Haus, wollte wie jeden Abend die Treppe hinaufsteigen und in die beiden Zimmer gehen, von deren Existenz nur er etwas wusste. Susanne verschwand beinahe hinter dem riesigen Lenkrad des Pick-ups und blickte Kiefer fast flehentlich an.
»Bitte.«
»Also gut. Fahr du voraus.«
Zu dritt schleppten sie Faust ins Haus. Der bekam von allem nichts mit. Bubi hatte sich rechts und links die Beine seines Vaters unter den Arm geklemmt, Kiefer ächzte unter dem Gewicht des Oberkörpers. Susanne eilte mit einer Taschenlampe voraus ins Schlafzimmer. Sie warfen ihn aufs Bett. Susanne zog ihm die schmutzigen Schuhe aus und deckte ihn vorsichtig zu. Jetzt war sie zufrieden, jetzt würde sie die Nacht nicht allein verbringen müssen.
»Kannst doch heute Nacht gleich hierbleiben, wenn du willst.« Bubi leuchtete mit einer Kerze in den Kühlschrank, nahm sich eine Scheibe Käse und wickelte sie um eine dünne Wurst. »Und ob du nun allein in Bonndorf rumhockst oder nebenan auf dem Sofa schläfst …«
»Aber im Gästezimmer liegen schon Lea und der Fremde«, schaltete sich Susanne ein.
»Danke, aber ich will lieber in meinem Bett schlafen. Ich komme morgen wieder vorbei. Übrigens«, er machte an der Küchentür noch einmal kehrt, »habt ihr was von Eva gehört?«
Mit einem lauten Schrei fuhr Lea aus dem Schlaf. Sie schlug mit ihren kleinen Fäusten um sich. »Nein«, stammelte sie. »Bitte, Mama.«
Susanne tastete nach dem Schalter ihrer kleinen Nachttischlampe. Es klickte zweimal, dreimal, dann fiel ihr der vergangene Tag wieder ein und die dunkle Realität. Sie fand die Taschenlampe, Faust schnarchte unbeeindruckt. Susanne schlüpfte in ihre Pantoffel und ging ins Gästezimmer.
»Ist ja gut, Lea«, versuchte sie, das Mädchen zu beruhigen. Lea, die Augen fest geschlossen und irgendwo zwischen Albtraum und wach, weinte laut und rief immer wieder nach ihrer Mutter. Über ihre roten Wangen liefen Tränen und ihre kleine Faust traf Susanne im Gesicht.
Susanne nahm sie in die Arme, drückte sie fest an sich und lief auf und ab. »Schschsch. Es ist alles gut, Kleines. Mama ist bald wieder da … du bist ja nicht allein.«
Susannes Stimme und ihre Nähe vertrieben den Traum und Leas Angst. So schnell, wie der Traum gekommen war, verschwand er auch wieder. Das Kind beruhigte sich und schlief in Susannes Armen langsam wieder ein.
Susanne trug sie hinüber ans Fenster, hinter dem das Schwarz der Nacht wartete.
»Mama und Papa kommen wieder, mein Kind. Sie kommen bestimmt bald zurück.« Sie schmiegte sich an Leas warmen Körper und küsste sie auf den Kopf. »Bald.«
31
24. Mai, 00:05 Uhr, Krankenhaus Donaueschingen, Intensivstation
Eva hatte darauf gewartet, dass, sobald sie die Leichen so weit weggezogen hatte, dass Joachim Beck durch das zerschlagene obere Glas hereinklettern konnte, Ritter und seine Kumpane aus dem Dunkeln hervorspringen und sich auf sie stürzen würden.
Als sie hinter ihrer Leichenbarrikade saß, abwartete und die Wut der Männer draußen im Ohr hatte, als diese dann plötzlich verschwanden und zur Dunkelheit auch noch Stille einkehrte, als der Moment kam, an dem sie aktiv nichts mehr tun konnte, da endlich wurde ihr mit einem Schlag die Ausweglosigkeit ihrer Situation bewusst. Nur durch tote Leiber und eine nachgebende Glastür von ihr getrennt warteten drei Männer darauf, über sie herzufallen. Sie zu töten. Oder sie zu vergewaltigen, einer nach dem anderen, immer wieder, bis sie den Spaß an ihr verloren hätten. Und dann erst zu töten.
Doch dann hatte sie die Stimme des Polizisten gehört.
Sie hatte sich eine kleine Taschenlampe von der Station geholt und so hingelegt, dass sie die Barrikade ein wenig erhellte. Im Schein dieser kleinen Lampe lächelte sie eine kleine, alte Frau an. Fast mitleidig, so schien es Eva. Die Frau lag ganz oben, die Haut zerbrechliches Pergament mit dunklen Flecken. Ihr Mund war zu einem Lächeln verzogen, stand halb offen und der obere Teil der Zahnprothese hatte sich gelockert und hing СКАЧАТЬ