Rattentanz. Michael Tietz
Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Rattentanz - Michael Tietz страница 47

Название: Rattentanz

Автор: Michael Tietz

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия: Edition 211

isbn: 9783937357447

isbn:

СКАЧАТЬ haben ein Kind?«

      Eva nickte. »Wollen Sie sie sehen?« Sie holte einen winzigen Geldbeutel aus ihrem Kittel. Sie war froh, dass sie immer auf ein paar altertümliche Papierabzüge der digitalen Bilder bestanden hatte. All die Tausend Fotos, die Hans auf einer externen Festplatte und auf DVDs speicherte, waren jetzt unerreichbar. Selbst zu bloßen Erinnerungen geworden, wie die Momente, an die sie eigentlich erinnern sollten.

      Eva gab Glück ein Bild von Lea. Ein weiteres Foto zeigte Hans und Lea in einem reifen Getreidefeld. Nur ihre Köpfe schauten aus dem Goldgelb der Ähren heraus und über ihnen strahlte die Sonne. Genau so ein Feld war es, in dem sie und Hans sich vor zehn Jahren zum ersten Mal geliebt hatten. Oder versucht hatten, zu lieben. Sie musste lächeln, was sie damals zum Glück nicht getan hatte. Sie lächelte zärtlich bei der Erinnerung an Hans’ Problemchen damals im Feld.

      Es hatte fünf Monate gedauert. Fünf Monate, in denen sie sich heimlich zu Spaziergängen getroffen oder leise miteinander telefoniert hatten. Fünf Monate Sehnsucht, fünf Monate schlechtes Gewissen ihren Partnern gegenüber. Hans hatte einmal zu ihr gesagt, dass sie beide − damals war außer leisen Berührungen noch nichts gewesen − schon ein seltsames Paar wären. Normalerweise würde man doch zuerst übereinander herfallen und sich dann erst Gedanken machen und über eine Zukunft reden. Oder gehen. Aber sie näherten sich einander mit Worten (Eva) und Zuhören (Hans). Und sie schrieben einander seitenlange Briefe.

      Bis Hans sie entdeckte, hatte Eva die Ehe mit Martin Kiefer als logische Fortsetzung ihres Elternhauses verstanden. Aus der Ehe ihrer Eltern waren Zuneigung und Respekt, wenn es diese Dinge denn je gegeben hatte, längst verschwunden, sie selbst hatte nie ein Familienleben im Sinne von Liebe und Geborgenheit erlebt. Und so waren die Männer, die sie unter den vielen Bewerbern aussuchte, immer einer ganz bestimmten Kategorie zuzuordnen: kühl, eher einfach in ihren Ansichten und sie waren sehr genügsam im Bett.

      Als Hans ihr in einem seiner Briefe geschrieben hatte, dass er ganz genau wisse, dass sie miteinander schlafen würden, hatte ihr Herz angefangen zu rasen. Genau das wollte sie – ihm gehören. Aber sie hätte niemals gewagt, diesen Gedanken zu denken, geschweige denn, ihn auszusprechen. Zu eng saß das Korsett ihrer strengen bürgerlichen Erziehung, zu klar war die Rolle einer Frau in ihr Hirn gebrannt. Als sie Martin geheiratet hatte, war sie froh, ihrem Elternhaus zu entfliehen. Für diese Freude opferte sie die Gelegenheit auf ein eigenes Leben. Sie glaubte damals wirklich, mit Martin vielleicht nicht glücklich, aber wenigstens zufrieden sein zu können. Irgendwann würden Kinder kommen und das kleine Reihenhaus, das sie umbauten, würde eine Familie beherbergen. Aber je mehr Martin von Kindern sprach, desto größer wurde Evas Angst und ihre Unsicherheit. Sie wusste nicht, was es war, aber irgendetwas stimmte nicht mit ihr, mit dem Leben, das sie lebte.

      Dass der bloße Gedanke an einen Mann sie erregte, war ihr bis da hin noch nie geschehen. Sex war, wie Martins Sportschau-Samstag auch, ein Etwas, das zu einer Ehe dazu gehörte und genau so lief es dann zwischen ihnen auch ab: Nachdem Martin ihr tagelang vergeblich Avancen gemacht hatte, ließ Eva es schließlich irgendwann über sich ergehen, mit den Gedanken sonst wo, ohne Erregung, ohne Lust. Berührungen und Zärtlichkeiten waren ihr schon immer unangenehm gewesen. Wie sollte eine junge Frau genießen und geben können, was sie als Kind niemals erlebt hatte?

      Es war ein warmer Augustnachmittag gewesen damals, als sie sich auf einem abgelegenen Wanderparkplatz getroffen hatten. Genau wie auf dem Foto, aus dem heraus Hans sie jetzt anlächelte. Sie wussten beide, dass es an diesem Tag geschehen würde und sie hatten beide bis zum frühen Abend Zeit.

      Eva hatte gewusst, dass die kommenden Stunden ihr Leben völlig verändern würden, dass sie danach niemals wieder ihren Mann an sich heranlassen könnte. Und trotzdem wollte sie Hans, wollte ihn, wie sie noch niemals zuvor etwas gewollt hatte.

      Und dann konnte er nicht.

      Es ging nicht und das war fast das Schönste, was ihr hatte passieren können, dachte Eva. Denn was stattdessen seine Hände und sein Mund mit ihr taten, hatte ihr fast den Verstand geraubt. Was er ihr schenkte, war reines Glück, war das wirkliche Leben! Geschenke, ganz ohne männliche Gier nach eigener Befriedigung. Ihm war sein Versagen peinlich und er hatte sich geärgert, dass er, wo er doch endlich am Ziel war, nicht konnte.

      Eva hatte seine unbeholfene Art, damit umzugehen, amüsiert, sie liebte ihn mehr als alles auf der Welt. Und jetzt war sie endlich auch bereit, dies einzugestehen.

      Eva streichelte Hans’ Gesicht auf dem Foto. Ihr Herz klopfte laut, hämmerte, aufgeregt wie bei diesem ersten Mal.

      »Aber eigentlich habe ich ja bald zwei Kinder«, sagte Eva und zeigte auf ihren Bauch. Glück hob die Augenbrauen, dann verstand er. Ein breites Lächeln überzog sein Gesicht.

      »Das ist gut.« Er streckte die Hand nach ihr aus. »Darf ich?«

      »Ich bin erst im dritten Monat, noch ganz am Anfang. Sie können noch nichts spüren.«

      Trotzdem nahm sie seine dünne Hand und legte sie sich auf den Unterleib. Aleksandr Glück schloss die Augen. Für einen kurzen Moment war die Welt wieder in Ordnung, war er jung, gesund und voller Kraft und Olga, seine Frau, trug ihren gemeinsamen Sohn in sich. Es war eine kurze, überaus vollkommene Sekunde, die Eva ihm schenkte. Und sie spürte die Ruhe des Alten in sich strömen. Was war wichtig? Am Morgen hätte sie es noch gewusst, da war alles noch klar und geordnet. Es gab Wertigkeiten, die unumstößlich und sicher schienen, in Stein gemeißelt sozusagen. Aber das war lange her, fast schon ein anderes Leben. Eva durfte sich nicht fallen lassen, sie musste stark sein, stark für Aleksandr Glück, für Lea und Hans – und für das Ungeborene. Aber was war das Wichtigste? Sie selbst? Lea? Glück?

      »Sie müssen auf sich aufpassen«, sagte Glück, streichelte ein letztes Mal ihren Bauch, dann zog er die Hand unter die Bettdecke zurück. Hatte er ihre Gedanken erraten? »Nur wenn Sie gesund bleiben, wird es auch das Baby sein. Nur wenn Sie Kraft haben, können Sie morgen zu Ihrer Kleinen fahren.«

      »Morgen? Wird morgen alles wieder gut sein?« Sie hoffte, dass der alte Mann ihr sagen konnte, dass die Welt sich am nächsten Morgen wieder in den gewohnten Bahnen bewegen würde. Dass alles nur ein böser, böser Traum war.

      »Vielleicht. Wahrscheinlich aber eher nicht.«

      »Der Polizist hat erzählt, dass die meisten Straßen blockiert sind und dass in der Stadt geplündert wird. Wie soll ich da, als einzelne Frau, die dreißig Kilometer bis Wellendingen schaffen?«

      Aleksandr Glück musterte sie und sagte dann: »Gehen Sie nicht davon aus, dass in ein, zwei Tagen alles wieder beim Alten sein wird. Vergessen Sie diese Illusion, dazu sind die Veränderungen viel zu einschneidend und viel zu umfassend. Wegen mir müssen Sie nicht gehen, ich freue mich, wenn Sie mir noch ein wenig Gesellschaft leisten. Wahrscheinlich wird nie wieder eine so schöne junge Frau auf meiner Bettkante sitzen«, sie lachte und verdrehte die Augen. »Doch machen Sie sich langsam Gedanken, Schwester, was werden soll, wenn keiner kommt und alles wieder wie früher macht. Überlegen Sie sich das.«

      Sie betrachtete ernst den alten Mann. Er wirkte gefasst und weise, ruhig. War dies der Zustand, den man Alter nennt? Oder war es ein Zustand, den ein Mensch erst dann erreicht, wenn sein Tod unmittelbar bevorsteht, er dies weiß und er dies akzeptiert? Glück wirkte so klug und wissend als könnten seine Augen etwas anderes sehen, als könne er mehr sehen als sie selbst, die noch viel zu sehr dem Leben verhaftet war.

      »Sind Sie jetzt eigentlich ganz allein hier, Schwester? Wo ist dieser Polizist und wo der kleine Doktor?«

      »Dem Polizisten habe ich eine Hose und den Pullover eines …«, sie zögerte verlegen.

      »Eines СКАЧАТЬ