Название: Rattentanz
Автор: Michael Tietz
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Edition 211
isbn: 9783937357447
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»Komm, hinterher! Der Wagen steht doch noch draußen!« Mario war schon auf dem Weg zur Tür, als ihn sein Bruder zurückhielt.
»Lieber nicht. Ritter wartet bestimmt schon!«
»Was geht uns dieser Ritter an, he?« Mario betrachtete das Blut in seiner Hand. Zorn stieg in ihm auf. »Bloß weil der einen Bullen abgeknallt hat, hat er uns noch lange nichts zu sagen!« Mario trat wütend gegen den Tresen und traf mit der Faust einen Flachbildmonitor. Das Gerät schwankte einen Augenblick auf seinem schmalen Fuß, bevor es sich für einen geräuschvollen Abgang entschied und neben der Drogensüchtigen auf den Boden fiel.
»Ja schon, aber …«
»Was aber? He, Großer, wir kennen doch den Typen erst seit heute Morgen! Und hast du gesehen, wie kalt der den Bullen umgenietet hat?« Alex wurde nachdenklich. Er hatte toll gefunden, wie Ritter mit der Maschinenpistole in der Hand aus dem Polizeirevier getreten war und den Bullen auf die Stufen warf. War besser als jeder Bruce-Willis-Kracher! »Und der Türke, der hat doch nicht mehr alle Tassen im Schrank. Rennt mit seinem Pferdeschwanz rum wie ’ne Tunte. Und der Blick von dem!« Mario schüttelte sich. »Wenn wir ohne Schmerztabletten zurückkommen, was meinst du, was die mit uns machen? He? So, wie die drauf sind!«
Mario hatte seinen älteren Bruder fast überzeugt.
»Weißt du, was wir machen? Wir verschwinden mit den Waffen und drehen auf eigene Faust ein Ding! Irgend ’ne Bank oder so! Oder wir fah ren rüber nach Villingen und schauen uns dort ein bisschen um. Los Bruder«, er boxte Alex gegen die Brust und tänzelte mit erhobenen Fäusten, wie Henry Maske in seinen besten Zeiten, um seinen Bruder herum. »Los, du und ich mit den Knarren und dem Auto – das ist es!«
Nachdem die Brüder mit quietschenden Reifen abgehauen waren, blieb die Frau unter dem Tresen noch lange in ihrem Versteck.
»Scheiße Mann, wo bleiben die Wichser?!« Ritter schleuderte einen weiteren Teller Richtung Eingangstür. Über eine halbe Stunde war inzwischen vergangen, ohne dass die Brüder aus der Ambulanz zurückgekehrt wären. Und er hatte Schmerzen!!!
»Soll ich mal nachsehen?«, bot sich Fuchs an.
»Ach was, die sind sicher abgehauen.« Ritter lockerte den Verband, denn der saß inzwischen so fest, dass er drohte, das Bein abzuschnüren. Das Bein hatte in den letzten Stunden deutlich an Umfang zugelegt und in der Wunde klopfte es wie ein im Keller eingesperrtes Kind, das gegen die Tür hämmert. »Die feigen Säcke sind über alle Berge, sonst wären sie längst zurück.«
In der Küche stand Mehmet mit gezogener Pistole lässig an die Wand gelehnt und beobachtete, wie der Koch die gewünschte Erdbeercreme zubereitete. Der Koch zitterte. Er hatte Todesangst. Warum war er nicht mit seinen Kollegen gegangen? Warum dieses verfluchte Pflichtbewusstsein? Wozu?
Ohne ein Wort zu sagen musterte Mehmet den Mann, beobachtete, wie der in einer Mikrowelle tiefgefrorene Erdbeeren auftaute, Sahne schlug und Zucker unterrührte. Schon nach den ersten Handgriffen wusste Mehmet, dass er den schwitzenden Koch würde töten müssen, denn was der da zubereitete, hatte mit der Erdbeercreme seiner Mutter so viel zu tun wie ein Pekinese mit einem Wolf. Geistesabwesend streichelten Mehmets Finger die Waffe. Sie fühlte sich gut an, machtvoll und ehrlich. Seit seinen Schüssen in die Leiche auf der Intensivstation war er wie elektrisiert. Es hatte ihn einiges an Überre dungskunst gekostet, von Ritter die Waffe zurückzubekommen, aber jetzt hatte er sie. Und das war gut. Sehr gut sogar.
Auf die Fragen des Mannes antwortete er nicht, weigerte sich auch zu kosten oder ihm die Rezeptur seiner Mutter zu verraten. Er beobachtete einfach still und fühlte sich unendlich stark und mächtig. Sein Zeigefinger umspielte den Abzug.
»Es ist fertig, die Creme, äh, die Erdbeercreme ist fertig. Bitte.« Der Koch hielt Mehmet die Schüssel hin, in der kleine Erdbeerstücke in einer sahnigen Masse schwammen. »Ich hoffe, sie ist richtig so.«
Mehmet steckte einen Finger in die Creme, ohne dabei den Koch aus den Augen zu lassen. Dessen Blick verfolgte Mehmets Finger und wartete auf eine Reaktion des Jungen. Er wusste, dass der Kleine verrückt war. Er hatte es dessen Augen angesehen, hatte die ganze Zeit, während er den Nachtisch zubereitete, den kalten Blick zwischen seinen mageren Schulterblättern gespürt. Wie gefrorene Pfeile. Der Blick eines Irren!
Mehmet kostete.
Und schüttelte wie in Zeitlupe den Kopf.
23
20:18 Uhr, Krankenhaus Donaueschingen, Aufzug 2
Thomas Bachmann konnte den Druck in seiner Blase kaum noch aushalten! Es schmerzte und er lief wie ein eingesperrtes Tier in der engen, stockfinsteren Fahrstuhlkabine umher. Zwei kleine Schritte hin, zwei kleine zurück, zwei hin und wieder zurück. Im Haus war es still. Oder meinte er das nur, weil sich alles in ihm auf seine Blase konzentrierte?
Er war ein Bettnässer. Früher jedenfalls, jetzt nicht mehr. Außer, es geschah etwas Ungewöhnliches. Wenn ihn beispielsweise eine Frau ei nen Moment länger ansah und er daraufhin errötend den Kopf senkte. Dann wollte sie ihm nicht mehr aus dem Kopf, schlich sich in seine Träume und Nummer drei verspottete ihn, während er von Nummer zwei nur ein pikiertes Räuspern erntete. Und am nächsten Morgen war dann manchmal sein Laken nass. Oder vor wichtigen Arztterminen, wenn es darum ging, dass bestimmte Mittelchen abgesetzt oder andere, vor deren unbekannten Nebenwirkungen ihm graute, neu hinzukamen. Deshalb weigerte sich Mutter auch weiter standhaft, das schmutziggrüne Gummilaken aus Thomas’ Bett zu entfernen. »Man weiß nie, mein Junge«, sagte sie in solchen Momenten, wenn er wieder einmal all seinen Mut zusammengekratzt hatte und mit gesenktem Haupt darauf hinwies, dass ein Achtundzwanzigjähriger und ein Gummilaken nicht zusammenpassten. »Man weiß nie, mein kleiner Liebling«, und sie wuschelte durch sein Haar und er wusste, das Thema war vorerst abgeschlossen.
Schreien durfte er jetzt nicht! Nummer zwei hatte es verboten, denn sonst käme der Tod. Der Tod, auf den Nummer drei doch so hoffte.
Nein, er durfte nicht schreien!
Aber der Urin musste raus aus ihm, die Schmerzen wurden unerträglich, wie Krämpfe oder Koliken oder beides zusammen. Als ob man ihm einen Dolch in den Unterleib gebohrt hätte und nun wild mit diesem in seinen Eingeweiden herumrührte. Es tat so weh. Thomas sank auf die Knie und krümmte sich vor Schmerz, sprang aber sofort wieder auf die Beine, weil diese Haltung den Druck auf seine Blase nur noch verstärkte. Er spürte, dass erste Tropfen seinen Körper verlassen hatten und schämte sich so sehr. Er schämte sich.
Hin und her, immer zwei Schritte, nicht nachdenken, laufen, laufen, einfach nur laufen und dabei tief einatmen und wieder ausatmen. Er würde nicht in die Hosen pinkeln!
Und wenn doch?
Nimm doch die Thermosflasche. Es war Nummer zwei, die endlich von sich hören ließ. Wie viel passt in sie rein? Ein Liter? Obwohl, sie zögerte, solltest du doch mal wieder Tee einfüllen wollen … Also, ich weiß nicht. Machs lieber doch nicht! Vielleicht geht ja gleich das Licht wieder an, die Tür öffnet sich und – stell dir das nur vor – vor der Tür stehen Menschen und du stehst hier im Aufzug, mit heruntergelassenen Hosen und pinkelst gerade in deine Thermosflasche. Nein, nein, lass es lieber! Gibt es eine Alternative?, fragte Nummer eins. Instinktiv wusste Thomas, dass es keine gab! Sonst würde Nummer eins sie ihm verraten.
Es gab keine Alternative.
Er bückte sich und tastete nach seiner СКАЧАТЬ