Название: Rattentanz
Автор: Michael Tietz
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Edition 211
isbn: 9783937357447
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»Wegen was?«
»Probleme. Sven will den Bagger nicht rausrücken, der auf seiner Baustelle steht.«
Sven, eigentlich Sven-Waldemar Wünsche − er verfluchte den Tag seiner Namensgebung −, Mitte Zwanzig, war im Begriff, im Wellendinger Neubaugebiet seinen Traum vom eigenen Häuschen zu verwirklichen. Heute Morgen waren nur zwei Arbeiter der Stühlinger Firma erschienen, die er mit dem Bau beauftragt hatte. Nach dem Airbusabsturz waren sie wortlos verschwunden. Eisele, der den Bagger für das Ausheben eines Massengrabes haben wollte, war von Sven mit der Begründung abgewiesen worden, dass der Bagger nicht sein Eigentum wäre und er ihn deshalb auch nicht ausleihen könne. Insgeheim hoffte er aber, dass seine Arbeiter morgen wie gewohnt erscheinen würden, nur könnten sie dann, ohne Bagger, nicht mit dem Ausheben der Baugrube fortfahren. Die Leichen auf dem Hardt waren ihm egal.
»Und was habe ich damit zu schaffen?«, fragte Frieder.
»Was du damit zu schaffen hast? Hast du nichts gemerkt, vorhin in der Krone?« Faust sah Mettmüller an und verstand gar nichts. »Frieder, ich weiß nicht warum, aber die Leute hören auf dich! Du hattest die Idee mit dem Treffen und du hast da unten nicht schlecht gebrüllt und so etwas wie Ruhe ausgestrahlt. Sicher, es gibt bestimmt Männer im Dorf, die den Überblick bewahren könnten und in der Lage wären, so lange es eben nötig sein wird, hier eine Art Bürgermeister zu mimen. Aber vorhin waren sie alle erstaunlich still. Du bist eben einer von ihnen, sie kennen dich und irgendwie«, er lächelte, »haben sie sich offenbar stillschweigend darauf geeinigt, dass du derjenige bist, den man fragt, wenn es nicht weitergeht. Mich übrigens eingeschlossen.«
20
19:51 Uhr, Wellendingen, Hardt
Frieder Faust wusste, dass er alles andere als ein Führer war. Meinte es zu wissen. Er warf einen weiteren Kronkorken aus dem Fenster seines Pick-ups und sah zu, wie Uwe Sigg stolz mit dem Bagger von Wünsches Baustelle den asphaltierten Feldweg zum Hardt hinauftuckerte und dort begann, zwischen den Trümmern des Airbusses eine Grube auszuheben.
Faust hatte nicht lange mit Sven Wünsche diskutieren müssen. Die Übermacht der Männer – neben Faust, Mettmüller und Eisele waren noch Uwe Sigg und drei andere bei Wünsche aufgekreuzt – hatte diesen schnell davon überzeugt, dass seine Baugrube auch noch einen weiteren Tag Verzug vertragen konnte. »Und solltest du Langeweile haben«, hatte Faust ihm zugerufen, »Christoph kann bestimmt noch Helfer gebrauchen.« Mettmüller hatte ihm daraufhin mit dem Ellenbogen in die Seite gestoßen und gesagt, dass vielleicht genau dies der Grund sei, warum die Leute im Dorf ihn, Faust, riefen und nicht irgendeinen anderen.
Er hatte im Pick-up das Radio eingeschaltet und den automatischen Sendersuchlauf betätigt. Nachdem alle Frequenzen fünfmal durchgelaufen waren, ohne dass aus den vier Lautsprechern etwas anderes als sphärisches Rauschen gekommen wäre, legte er eine CD ein. Und schaltete dann wieder ab.
Wie fleißige Ameisen liefen Menschen über die Absturzstelle und trugen etwas zusammen; er wusste, was es war. Frauen sammelten Gepäckstücke ein und stapelten sie auf einem Haufen. Man wollte sie unten im Ort in der Grundschule lagern, bis jemand käme, um sie für die Hinterbliebenen abzuholen. Aber im Augenblick musste man sie erst einmal vor Plünderern schützen, die bereits zwischen den Trümmern nach Brauchbarem suchten. Die Männer sammelten die Toten ein. Über Bonndorf stieg eine dunkle Rauchwolke auf, ebenso zwischen Buchberg und Eichberg, ganz am Horizont, dort wo Blumberg lag.
Er kam mit den Veränderungen, die dieser Tag in so rasendem Tempo gebracht hatte, nicht zurecht. Alles brach weg. Wichtiges war plötzlich unwichtig, wie das brennende Schloss in Bonndorf, und Unwichtiges wichtig, wie Albickers Kühe.
Faust sehnte sich nach seiner Baustelle, nach einem Dachstuhl, an dem er arbeiten durfte. Er wollte Holz zusammenfügen, wollte tun, was die vergangenen dreißig Jahre sein Job war, wollte einfach nur Frieder Faust sein: Prügelknabe als Kind, respektiert als Erwachsener. Und sonst nichts!
Bisher waren doch auch alle ohne ihn zurechtgekommen! Wieso also dann ausgerechnet er, wieso jetzt?
Er hatte nie etwas auf die Meinung oder gar auf die Bewunderung anderer gegeben. Ihm reichte, dass sie ihn akzeptierten und anerkennend auf die Schulter klopften, wenn seine Arbeit gut war. Mehr wollte er nie; keine Öffentlichkeit, keine Vereine, keine Politik – nur seine Ruhe, die war ihm wichtig. Und ein Bier.
Vor ihm lag Wellendingen, durchflossen vom Ehrenbach, an dem er als Kind Staudämme gebaut hatte und Wasserräder rattern ließ. Er war in Wellendingen geboren, im Schlafzimmer über dem Stall seines Elternhauses, an dessen Stelle er später das eigene Haus errichtete.
Obwohl die Sonne noch eine Stunde bis zu ihrem Untergang hatte, wurden die Schatten der einzelnen Tannen am gegenüberliegenden Hang bereits merklich länger. Von dort ging es hinab ins Steinatal und dahinter dehnten sich die Bergkuppen des Schwarzwaldes – dunkel und geheimnisvoll, schützend. Das hier, wurde ihm bewusst, war sein Zuhause. Das war Heimat.
21
19:54 Uhr, Kernkraftwerk Civaux, Frankreich
Block zwei des französischen Kernkraftwerkes Civaux explodierte kurz vor acht. Die radioaktive Wolke trieb am Abend über das gleichnamige Städtchen und seine noch neunhundert Einwohner.
22
20:04 Uhr, Krankenhaus Donaueschingen, Klinikküche
Hermann Fuchs und Daniel Ritter saßen in der Kantine.
Fuchs kannte das Krankenhaus recht gut. Bis zur Bewusstlosigkeit abgefüllt, war er bereits dreimal hier eingeliefert worden. Er schlief jeweils zwei Tage seinen Rausch aus und erkundete in einem Bademantel, den ihm die Schwestern freundlicherweise zur Verfügung stellten, Klinik und Park, bis man ihn wieder auf die Straße setzte. Eine Sozialarbeiterin mit knallengen Jeans und einem Dekolleté, bei dem ihm heute noch das Wasser im Mund zusammenlief, versuchte ihn zur Resozialisierung (es klang süß aus ihrem Mund) zu überre den. Er sagte nie nein, sondern vertröstete die Kleine immer auf den nächsten Tag, was ihn in die glückliche Lage versetzte, jeden Tag eine bescheidene Peepshow zu bekommen.
Ein weiterer Besuch in der Klinik wurde unvermeidbar, als sein Blinddarm platzte und, laut Chefarzt, seine Därme schon im Eiter schwammen. Aber sie hatten ihn wieder hinbekommen und ihm sogar jeden Abend zwei Bier statt des sonst üblichen Kräutertees spendiert. Es war schon nicht übel, dieses Krankenhaus; er hatte es warm, konnte die Menschen beobachten und genoss es, den Unbeholfenen und Kran ken zu mimen und damit eine der Schwesternschülerinnen zur Hilfe zur animieren. Aber meistens kam stattdessen Schwester Brunhild, ein monströser Drachen von fast einsneunzig, mit Bartstoppeln am Kinn und tiefer Stimme, die Fuchs aus dem Bett hob.
»Wird schon wieder!«, hatte sie immer gesagt und ihm dabei sanft, wie sie meinte, den Rücken getätschelt, was ihn umgehend quer durch das Patientenzimmer bis ans Waschbecken schubste.
Der letzte Aufenthalt lag zwei Jahre zurück. Ein alter Tatterkreis, den seine Prostata und ein nerviger Köter nicht schlafen ließen, hatte Fuchs halb erfroren in einem Straßengraben gefunden. Fuchs konnte sich an diese Nacht kaum noch erinnern. Irgendwann nach Mitternacht − er würfelte mit zwei anderen Pennern, die sicher auf der Durchreise waren, in einer Bushaltestelle um den nächsten Schluck − war sein Film gerissen. СКАЧАТЬ