Название: Rattentanz
Автор: Michael Tietz
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Edition 211
isbn: 9783937357447
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»Dennoch«, er stand auf, »versuchen kann man’s ja mal.«
»Genau.« Auch Eugen Nussberger erhob sich und räusperte sich geräuschvoll.
Schnell fanden sich vier Freiwillige, die mit ihren Autos durchs Dorf fuhren, hupten und die wenigen Daheimgebliebenen vom Treffpunkt unterrichteten. Punkt zwei im Gasthaus Krone. Eine Handvoll Unentwegter wollte die Hoffnung noch nicht aufgeben und im Trümmerfeld zwischen Hardt und Lindenbuck weiter nach eventuellen Überlebenden suchen, darunter Bubi. Die Bonndorfer brachen auf, um ein ähnliches Treffen in ihrer Stadt zu organisieren.
Faust, Nussberger und Mettmüller trafen als Erste in der dunklen und kühlen Gaststube ein. Der Wirt, Berthold Winterhalder, hatte die breite Ziehharmonikatür zum Nebensaal geöffnet und eilig die Stühle von den Tischen genommen.
»Glaubt ihr, es kommt überhaupt jemand?«
Seine Frage beantwortete sich schnell von selbst. Als hätten sie nur auf einen Ruf gewartet, strömten die Menschen aus ihren Häusern. Vor allem Frauen, die mit ihren Kindern zu Hause geblieben waren und Ältere, denen die Suche am Hardt zu anstrengend schien, sodass sie diese lieber den Jüngeren überlassen hatten, gierten nach Gesprächen und Informationen. Kurz nach zwei waren beide Stuben der Wirtschaft zum Brechen gefüllt. Frieder hatte es sich am Tresen bequem gemacht, vor sich bereits die zweite Flasche Bier.
Wellendingen besaß, seit es vor Jahren Teil der Gemeinde Bonndorf geworden war, weder einen eigenen Bürgermeister noch einen Ortsvorsteher, sodass jetzt keiner anwesend war, dem es von Natur aus zufiel, das erste Wort zu ergreifen. Schließlich erhob sich Pfarrer Kühne und im Saal wurde es still.
»Wir wissen nicht«, begann er, »was die Ursache all dessen ist, was in den letzten Stunden geschah.« Jakob Kühne, mit seinen zweiundvierzig Lenzen der jüngste Pfarrer, den die kleine Gemeinde bis dato hatte, wirkte gefasst und ungewöhnlich ernst. Wäre man auf der Suche nach dem Sinnbild des süddeutschen Dorfgeistlichen − hier hätte man ihn gefunden. Gemütlich und durch kaum etwas aus der Ruhe zu bringen, mit einem erheblichen Bauchansatz, gesund strahlenden roten Wangen und einer Nase, deren Röte und Größe davon erzählte, dass Pfarrer Jakob Kühne durchaus auch seine Erfahrungen im Bereich der weltlichen Genüsse hatte, stand er vor seinen Zuhörern und suchte die passenden Worte. »Aber um ehrlich zu sein«, er zögerte und kratzte sich am Hinterkopf, »um ehrlich zu sein, weiß ich weder was geschehen ist noch wie es weitergehen soll.« Unter seinen Zuhörern wurde es unruhig. »Aber vielleicht kann ein Gebet uns weiterhelfen. Ich weiß«, er hob beide Hände, um dem Murren, vor allem der Jüngeren, Einhalt zu gebieten, »ich weiß, dass ihr im Moment anderes im Kopf habt, aber haben wir heute nicht genug Schlimmes erlebt und genug Tod gesehen? Kann einer von euch einen klaren Gedanken fassen? Kommt, lasst uns zusammen beten, ich werde es auch kurz machen!« Damit faltete er die Hände vor seinem Bauch und senkte den Kopf.
»Herr, gib uns die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die wir nicht ändern können und gib uns den Mut und die Kraft, Dinge zu verändern, die wir ändern können. Und wir bitten dich, gib uns die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden. Amen.«
Kühne ließ einen Blick über die Köpfe der vielen Männer, Frauen und Kinder schweifen und sah, dass Bonhoeffers Gebet sie tief getroffen hatte. Es hatte ihnen innerhalb weniger Sekunden klargemacht, dass augenblicklich nicht unbedingt das »Warum« im Vordergrund stand, sondern eher das »Wohin«. Schweigend suchten fast dreihundert Augenpaare den Pfarrer und warteten. Der schien aber offensichtlich der Meinung, mit einem stärkenden Gebet sei vorerst sein aktiver Teil an der Veranstaltung beendet und setzte sich. In mehreren Ecken begann man zu tuscheln.
»Wer von euch hatte die Idee mit diesem Treffen?« Pfarrer Kühne erhob sich noch einmal und musterte die Dorfbewohner. Offensichtlich war er der Meinung, dass der Initiator dieses Treffens als nächster sprechen sollte
»Frieder? War doch von dir, oder?«, fragt einer aus der Runde und erntete zustimmendes Gemurmel.
»Faust?« Uwe Sigg erhob sich und brüllte durch den Saal. »He Faust, komm, sag schon, warum hast du uns zusammengetrommelt? Oder mussten wir alle kommen, um dir beim Biertrinken zuzusehen?« Sigg war mit dem Gelächter, das seine Bemerkung hervorrief, sichtlich zufrieden und setzte sich. Er strahlte und ignorierte den bösen Blick, den Faust ihm vom Tresen her zuwarf.
Mettmüller beugte sich zu Faust hinüber und flüsterte: »Komm schon, du musst jetzt irgendwas sagen, die warten alle drauf. Schließlich war das hier alles wirklich deine Idee!« Faust nickte nach kurzem Zögern und stellte die Flasche ab.
»Stimmt, es war meine Idee«, begann er und im Saal wurde es augenblicklich still. »Ich dachte …«
»Lauter!«, brüllte es aus dem Nebenraum und »Steh doch auf, Frieder!«, also erhob er sich.
»Ich dachte, ihr wisst alle wie ich aussehe«, versuchte er es noch einmal und hatte die Lacher auf seiner Seite. »Aber Spaß beiseite: es gab keinen bestimmten Grund, wenn ihr das erwartet, kein Allheilmittel, das euch jetzt verkündet wird. Ich bin genau so schlau oder dumm wie ihr alle.« Faust wartete auf einen weiteren Lacher, aber es blieb erstaunlich still. Seltsam, so vor den versammelten Dorfbewohnern zu stehen, schoss es ihm durch den Kopf. Wie groß war doch der Unterschied zu seiner Kindheit, als er, in den abgetragenen Sachen seiner Schwester und immer nach Stall riechend, der Prügelknabe des Dorfes war. Jetzt stand er vor ihnen und alle, wirklich alle hingen an seinen Lippen. Seit er die Schulzeit − und damit seine stotternden Gedichtrezitationen − hinter sich gelassen hatte, war er jeder Menschenansammlung, bei der er eventuell etwas hätte sagen müssen, konsequent aus dem Weg gegangen. Aber jetzt fühlte er sich ruhig und erstaunlich sicher.
»Weißt du, wann der Strom wieder angestellt wird?« Die Frage kam von Hildegund Teufel. Mit ihren siebenundachtzig Jahren lief sie immer noch täglich durch das halbe Dorf und holte ihr Kännchen Milch direkt vom Bauern. Und mit den zwei Gehstöcken, von denen keiner genau wusste, ob sie diese wirklich brauchte, war sie allen Hunden im Dorf ein permanenter Dorn im Auge und für alle Kinder das Sinnbild einer Hexe schlechthin.
»Das wüssten wir alle gern!«, antwortete statt Frieder Martin Kiefer, Eva Segers erster Mann. Er erhob sich. Als einziger Bonndorfer war er heute in Wellendingen geblieben und keiner wusste genau warum. Schließlich gab es hier nichts, was ihn halten konnte. Jetzt räusperte er sich und kletterte auf einen Stuhl. »Viel wichtiger finde ich die Frage, wer hier, bis alles wieder geregelt läuft, das Sagen hat! Schließlich«, er musste die Stimme erheben, um die Zwischenrufe zu übertönen, »schließlich muss jemand Entscheidungen treffen und planen, was als Nächstes zu tun ist und was nicht.«
»Und warum sollten wir das nicht gemeinsam können?«
»Genau! Und wir brauchen bestimmt keinen Bonndorfer, der hierherkommt und uns erzählt, was wir als Nächstes zu erledigen haben!«
»Wärst du wohl gern, unser Bürgermeister oder so?«
»Ruhe!« Frieder Faust war auf den Tresen geklettert. »Ruhe! Jetzt seid bitte einen Moment ruhig!« Langsam wurde es still im Saal. »Es bringt nun wirklich nichts, wenn wir hier übereinander herfallen und uns zerfleischen!« Zustimmendes Gemurmel. »Sicher, das was Martin eben gesagt hat, ist bestimmt nicht unser dringlichstes Problem, aber sollte sich die Lage in zwei oder drei Tagen nicht wieder normalisiert haben, steht dieser Punkt schon auch auf der Tagesordnung.« Er sprang von seinem Podium und nahm einen Schluck, wobei ihm Susannes missbilligender Blick nicht entging. Seine Frau und die kleine Lea Seger standen Hand in Hand nahe beim Ausgang und ließen ihn nicht aus den Augen.
Lydia СКАЧАТЬ