Название: Rattentanz
Автор: Michael Tietz
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Edition 211
isbn: 9783937357447
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Beck ließ die abgebrochene Scherbe fallen, die Spitze steckte noch im muskulösen Oberschenkel des Bodybuilders. Dann hetzte er im Slalom um die Schreibtische und Stühle zum Hinterausgang. Er erreichte den schmalen dunklen Flur, wäre fast über etwas am Boden Liegendes gestolpert (Storm?), als Ritter hinter ihm auftauchte und lautstark nach Unterstützung brüllte.
»Kommt her, kommt hinters Haus! Der Bulle wollte mich umbringen!«
Beck blieb keine Zeit, weiter über das Hindernis im Flur nachzudenken. Ritter war mittlerweile nur noch fünf Meter entfernt, humpelte aber stark.
Ohne einen weiteren Blick zurück begann Joachim Beck, zu rennen. Er rannte mit nur einem Schuh, blutenden Händen und einer gebrochenen Nase, konnte nur mit einem Auge sehen und rannte um sein Leben. So schnell er konnte, versuchte er das Revier und die grölenden Menschen dort hinter sich zu lassen. Er rannte, bis die Lungen wie flüssiges Feuer in seinem Leib brannten, bis er endlich einen Hausflur fünf Straßen weiter erreichte und glaubte, in Sicherheit zu sein.
Als Ritter einsah, dass Joachim Beck ein verlorenes Opfer war, schleppte er sich zurück in den Gang. Vor Kommissar Storm blieb er mit einem bösen Lächeln stehen. Storm lag noch immer bewusstlos am Boden, das dünne Blutrinnsal aus seinem Hinterkopf trocknete langsam. Ritter bückte sich, packte Storm am Kragen und zerrte ihn hinter sich her wie einen Sack Kartoffeln. Vor der verriegelten Eingangstür legte er ihn ab und humpelte zu Salms Schreibtisch. Er griff sich den Schlüsselbund und öffnete den Waffenschrank.
»Geile Scheiße!«, stöhnte er, als er die blinkenden Maschinenpistolen sah. Er griff sich die nächstbeste und folgte dann den Bildern auf einem Plakat, welches innen an der Schranktür hing. Magazin einlegen und entsichern. Kinderleicht! Er fühlte sich so stark, stark wie nie zuvor. Aus der kalten Waffe strömten übermenschliche Kräfte in seine Hand und den kräftigen Körper. Sie ließ ihn fürs Erste den Schmerz im Oberschenkel vergessen. Er humpelte zurück zu Storm und stemmte ihn sich auf die Schulter. Dann schloss er den Haupteingang auf, trat gegen die Tür, die nun bereitwillig aufsprang, und ging nach draußen.
»Ich hab euch was mitgebracht, Leute!«, lachte er und warf Storm vor sich auf den Gehweg. Dann richtete er die Maschinenpistole auf den Bewusstlosen und schoss in einer langen Salve das Magazin leer. Joachim Beck flüchtete in ein Treppenhaus. Dort brach er zusammen. Sein Atem rasselte, er war gerannt wie seit Jahren nicht mehr. Aber jetzt war er wenigstens sicher, wenigstens allein.
Da wurde die alte Haustür, die sich gerade erst mit einem Quietschen hinter ihm geschlossen hatte, aufgestoßen.
13
13:03 Uhr, Wellendingen
Bubi Faust hatte wundervolle Aufnahmen gemacht! Er war so nah an die Absturzstelle herangekrochen, wie dies Hitze und gelegentliche kleinere Explosionen, die dem Absturz des Airbusses folgten, nur zuließen. Und er hatte fotografiert: in den Himmel schießende Flammen, aufquellende Rauchpilze, verkohlte Leichenteile, ja selbst ein zur Unkenntlichkeit verbranntes Gesicht ohne Lippen, aber mit einem Goldzahnlächeln.
Er hatte sich nach und nach vom eigentlichen Wrack wegfotografiert und war über das Feld den Spuren gefolgt, die der Rumpf in die Erde gegraben hatte. Und er nahm dabei die Kamera nur selten vom Auge.
Gepäckstücke lagen, im weiten Umkreis verstreut und zum Teil vollkommen unversehrt, neben Körper- und Wrackteilen. Und, wenn er zurücksah, ragte dort der flügellose Airbusrumpf in den Himmel, schwarz verbrannt, mit leeren Augenhöhlen, aus denen Flammen züngelten. Über allem trieben Schönwetterwolken durch den Maitag und Lerchen übertönten in einiger Entfernung bereits wieder die Geräusche des Infernos. Das waren Fotos!
Das Leben war so schön! Und manchmal auch gerecht. Eine Flugzeugkatastrophe hier, direkt vor seiner Haustür! Und er mitten dabei! Und diese Bilder! Wie viel würden sie wohl zahlen bei den Sendern? Er wollte die Bilder mehreren Sendern anbieten. Und abkassieren! Das war vielleicht die Chance seines Lebens! Nie wieder blöde Bewer bungsgespräche, nie wieder einen Wecker stellen und Schulbänke drücken! Denn diese Bildern, er streichelte die Canon wie einen Schatz, würden ihn mit einem Schlag berühmt machen! DIE VOLKER-FAUST-REPORTAGE! Nein, besser: BUBI-FAUST-REPORTAGE! ER FÄNGT AN, WO ANDERE AUFHÖREN! MIT BUBI FAUST SIND SIE NICHT NUR DABEI, SONDERN MITTENDRIN! So könnte es werden, nein, so würde es werden!
Bubi hatte weiter fotografiert, die Gigabyte-Speicherkarte setzte keine Grenzen, kannte kein Ende. Er fotografierte auch noch, als Dorfbewohner und Leute aus Bonndorf, die zu der Absturzstelle geeilt waren, begannen, nach Überlebenden zu suchen. Zweihundert waren es vielleicht, die sich zwischen die Trümmer wagten, zweihundert Frauen und Männer, die helfen wollten.
Bubi hatte keine Überlebenden gesehen. Na ja, fast keine. Eine Frau hatte gerufen. Geflüstert. »Hilfe.« Die Worte waren wie ein raschelndes Blatt gewesen. So leise, so unbedeutend. Bubi hatte kurz gestutzt und, das Wrack in seinem Sucher, eine atemberaubende Aufnahme geschossen.
»Hilfe!«
Etwas lauter. Eine Stimme!
Bubi hatte sich umgesehen und, zwischen Koffern, Taschen und halb unter einer großen Metallplatte begraben, eine Frau entdeckt, die noch festgeschnallt in ihrem Sessel saß. Sie blutete aus beiden Ohren. Eine Augenhöhle war leer. Mit dem anderen Auge sah sie zu Bubi hinüber und in ihrem Blick lag ihr Flehen um Hilfe. Ihre rechte Schulter war von einer Metallplatte zertrümmert und im Bauch steckte eine Stange, die bis zu ihrer Wirbelsäule eingedrungen war. Ihre Beine würde die Frau nie wieder benutzen können.
Bubi ging zu ihr. Aber nicht, um ihr zu helfen, um die Metallplatte anzuheben oder nach Hilfe zu schreien und zu winken, bis die anderen endlich kämen. Bubi kauerte sich neben sie und wartete, bis sie genau in die Linse seiner Kamera sah, dann drückte er ab und lächelte glücklich. Denn das Leben war schön.
Frieder Faust, Jürgen Mettmüller und Eugen Nussberger saßen etwas abseits von den anderen unter einer knorrigen Kiefer. Von hier aus hatten sie einen überwältigenden Blick auf Wellendingen und die sanften Wogen des Schwarzwaldes dahinter. Frieder Faust erkannte sein Haus. Es lag an einer kleinen Seitenstraße, nur wenig oberhalb des Ortskerns. Hier war er aufgewachsen, dort, wo früher die Ärmeren und Zugezogenen lebten. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges kamen selbst hierher, in den äußersten Südwesten Deutschlands, Flüchtlinge aus dem Osten und ein paar von ihnen waren in dieser Straße hängen geblieben. Eine Frau mit vier Kindern kam aus Ostpreußen, ihr Mann folgte erst acht Jahre später aus russischer Kriegsgefangenschaft und einer schier endlosen Odyssee quer durch ganz Deutschland. Er hatte seine Familie wiedergefunden, aber sie fanden nie wieder zueinander. Für die Kinder blieb er ein Fremder und für seine Frau nur noch der Schatten einer längst vergangenen glücklicheren Zeit. Er nahm sich zwei Jahre später das Leben. Der Mann war Frieder Fausts Großvater.
Drei der vier Kinder verließen Wellendingen, nur Frieder Fausts Vater, der Älteste, blieb. Eine kleine Witwenrente und acht Kühe ernährten ihn und seine Mutter. Als Fausts Eltern heirateten und seine Mutter rasch nacheinander drei Kinder gebar, reichte, was die kleine Landwirtschaft abwarf, vorn und hinten nicht mehr. Frieder, jüngster Spross, musste die abgetragenen Kleider seiner Schwestern tragen, nach der Schule mit im Stall helfen und während der Erntezeit blieb er dem Unterricht ganz fern. Für Freundschaften СКАЧАТЬ