Название: Rattentanz
Автор: Michael Tietz
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Edition 211
isbn: 9783937357447
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Der Bodybuilder, der Beck unfreiwillig zur Flucht verholfen hatte, indem er ihn durch das offene Fenster der Bank schleuderte, war inzwischen zum Hinterhof des Reviers geschlichen. Dieser Ort war ihm bestens vertraut. In den vergangenen Jahren hatte man ihn ganze sechs Mal verhaftet und immer wurde der Polizeiwagen hier hinten abgestellt und er von seiner Eskorte in den dunklen Flur zum Revier gestoßen.
Es waren keine großen Sachen, weswegen sie ihn mitgenommen hatten. Einmal Handel mit Anabolika, einmal Nötigung (er schwor heute noch felsenfest, dass die Kleine es genau so gewollt und ihren Spaß dabei gehabt hatte, wenn sie vor dem Richter dann auch alles verdrehte). Die restlichen Festnahmen erfolgten wegen Körperverletzung. Aber war es denn ein Verbrechen, einem Kerl, der dein Mädchen dumm von der Seite anmacht, die Leviten zu lesen? Wo käme man hin, wenn jeder das Mädchen des anderen anbaggern dürfte? Nein, da war sich Daniel Ritter, der Bodybuilder, sicher, irgendwo hört die Freundschaft auf, was er damals dem vermeintlichen Konkurrenten auch überdeutlich erklärt hatte. Mit Hilfe beider Fäuste, versteht sich.
Im Flur traf er auf Storm, den Dienstgruppenleiter. Ritter kannte Storm von einigen Verhören recht gut und erkannte ihn sofort an dessen kahlen Schädel und der gedrungenen Körperhaltung. Storm wäre in einem fairen Kampf, Mann gegen Mann, ein ernstzunehmender Gegner gewesen, aber Ritter hatte keine Lust auf einen fairen Kampf. Was würde das bringen, wem würde das helfen? Ihm bestimmt nichts! Also hatte er sich instinktiv für das Überraschungsmoment entschieden und Storm mit einem gezielten Faustschlag niedergestreckt. Bye bye Bulle, schlaf schön!
Beck spürte, dass mit Storm, der den Hintereingang verschließen wollte, etwas nicht stimmen konnte. Er hätte längst zurück sein müssen!
Joachim Beck saß in einer vergitterten Mausefalle, war die Maus in diesem Spiel, und umzingelt vom Mob. Und einer von ihnen, ein Tier mit glänzenden, zum Zerreißen gespannten Muskelsträngen, drückte bereits behutsam die Hintertür auf und warf einen ersten vorsichtigen Blick in den großen Raum, in dem Joachim Beck gefangen saß. Durch die glaslosen Fensteröffnungen drangen wütenden Rufe herein. »Kindermörder«, riefen sie und »Verrecken sollt ihr.« Steine flogen.
Beck blickte sich um. Wo war der Ausweg?! Hinter dem verschlossenen Haupteingang und den vier vergitterten Fenstern lauerte Gesindel, das nur darauf wartete, ihn zwischen die Finger zu bekommen und zu zerreißen. Der einzige weitere Ausgang führte über einen dunklen Flur zum Hinterhof, durch eine Tür, die Storm hatte sichern wollen. Oder hatte Storm angesichts der unberechenbaren Situation das Weite gesucht?
Becks Blick fiel auf den Stahlschrank hinter Salms Schreibtisch. Der Waffenschrank – voll gestopft mit schussbereiten MP5, Maschinenpistolen made in Germany!
Beck duckte sich und rannte durch den Raum, suchte dabei immer wieder hinter einem Schreibtisch Schutz vor den hereinfliegenden Steinen. Wie erwartet war der Waffenschrank verschlossen. Beck begann den Schreibtisch des Revierleiters zu durchsuchen, riss eine Schublade nach der anderen heraus und verstreute den Inhalt auf dem Boden.
»Suchst du den hier?«
Beck sah auf, wie vom Donner gerührt und halb gebückt hinter dem Schreibtisch eingefroren. Auf der anderen Seite stand Ritter vor ihm, der Bodybuilder, mit einem breiten, unfreundlichen Grinsen auf den Lippen. Seine Augen funkelten eiskalt und mit einem Anflug von Vorfreude.
»He, das hier suchst du doch! Oder etwa nicht, Bulle?!« In der ausgestreckten Hand hielt er einen Schlüsselbund. Beck erkannte daran den markanten Schlüssel zum Waffenschrank, lang und glänzend, mit einem eigentümlichen Doppelbart am Ende. Richtig, fiel es ihm ein, Salm musste, als er das Revier verlassen hatte, den Bund mit allen wichtigen Schlüsseln dem zurückbleibenden Dienstgruppenleiter, also Storm, gegeben haben! Und wenn jetzt dieser hirnlose Muskelberg im Besitz der Schlüssel war, musste Storm … Er weigerte sich, den Gedanken zu Ende zu denken und richtete sich auf.
»Willst du ihn dir nicht holen?« Ritter lächelte. Beck war sicher einer von der Sorte Mann, die sich erst in Uniform als Mann fühlen, dachte er. Ohne den offiziellen Ornat würde er übersehen, eventuell milde belächelt.
Er hielt dem Polizisten die Rettung entgegen und klimperte mit den Schlüsseln. »Komm, kannst sie haben, wenn du willst, Bulle. Musst sie dir nur holen.«
In diesem Moment flog ein weiterer Pflasterstein zwischen die Gitterstäbe hindurch, traf einen Schreibtischstuhl an der Lehne und prallte ab. Der Stuhl drehte sich zweimal um die eigene Achse, während der Stein Daniel Ritters Knöchel traf.
»Au, Scheiße noch mal!«, fluchte der Getroffene und griff sich an den Fuß. »Hört auf, ihr Idioten, ich mach euch gleich die Tür auf!«, brüllte er Richtung Straße, aber da die Fenster von der Straße aus so weit oberhalb lagen, dass keiner ohne Leiter hineinsehen konnte und somit auch niemand Ritter sah, erntete sein Gebrüll nur Hohn und Gelächter.
Beck nutzte den kurzen Augenblick der Unkonzentriertheit seines Gegenübers und hechtete über den Schreibtisch. Er blieb dabei mit einem Fuß an Salms hypermoderner Schreibtischlampe hängen und stürzte kopfüber auf den Boden.
»Na, du hast es aber eilig!« Ritter lächelte böse. Vor ihm lag Joachim Beck hilflos auf dem Rücken. »Du siehst echt scheiße aus, Bulle, weißt du das eigentlich?« Durch das Fenster flog ein weiterer Stein und zerschlug Salms Lampe. »Eh, machst du dir etwa in die Hosen?« Im Schritt von Becks Hose wurde ein dunkler Fleck schnell größer.
»He Leute, der Bulle bepisst sich gerade!«, brüllte Ritter und warf den Schlüsselbund auf den Schreibtisch, um für das, was er jetzt tun wollte, beide Hände freizuhaben.
»Ich an deiner Stelle hätte jetzt auch Angst«, flüsterte Ritter. Beck versuchte, auf dem Rücken liegend und mit weit aufgerissenen Augen, von seinem Gegner wegzurobben − aber mit zwei großen Schritten war der über ihm und setzte dem Polizisten seinen schweren Lederschuh auf die Kehle. »Und jetzt? Ohne deine Knarre und deine schwulen Bullenkumpels bist du ganz schön blöd dran, he? Bepisst dich vor Angst und versuchst einfach wegzukrabbeln, was? Statt, dass du kämpfst wie ein richtiger Mann!« Ritter verlagerte einen weiteren Teil seiner einhundertvierzehn Kilo in den rechten Fuß und drückte Becks Kehle weiter zu. Beck spürte den Knorpel seines Kehlkopfes knirschen. Er riss den Mund weit auf, aber das, was an Luft noch die zusammengepresste Luftröhre passieren konnte und seine Lungen erreichte, konnte bei Weitem nicht den Bedarf des Mannes decken. Mit seiner Atemnot steigerte sich seine Angst und die Angst wiederum ließ ihn noch schneller hecheln. Ritter fand Vergnügen an diesem Spiel und lockerte kurz den Druck in seinem Fuß. Wie ein altersschwacher Asthmatiker sog Beck die Luft tief in die Lungen ein, aber schon schnürte Ritters Schuh seinen Hals erneut zu. Voller Panik tasteten die Hände des Polizisten über den Boden. Einen Stein, dachte er, Gott, gib mir einen Stein! Stattdessen berührten seine Finger eine der vielen Glasscherben. Er lag halb mit dem Gesäß auf ihr, vor Ritters Blick verborgen.
»So, kleiner Bullenpisser, langsam Zeit, Lebwohl zu sagen, he? Bin mal gespannt, ob du schreien kannst, wenn es zu Ende geht. Kannst du schreien Bulle, he, kannst du?« Ritter beugte sich eine Kleinigkeit zu seinem Opfer hinab und verstärkte dabei den Druck, den sein Schuh ausübte. Die grobe Sohle drückte tief in den Hals und hinterließ dunkle Blutergüsse.
Beck packte die lange, schmale Scherbe, auf der er lag. Er griff sie, so fest er konnte, wobei das Glas tief in seine Handfläche und die Finger schnitt. Blutstropfen quollen hervor, Beck biss sich auf die Lippen, riss seinen Arm hoch und jagte die Waffe mit aller Gewalt in Ritters Oberschenkel. Mit der anderen Hand zerrte er sich den Fuß vom Hals und rollte unter dem in die Knie gehenden Gegner zur Seite. Ritter stieß einen überraschend hohen Schmerzensschrei aus – schrill, wie das Quieken eines zur Schlachtbank gezerrten СКАЧАТЬ