Die Grünen. Marius Ivaskevicius
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Название: Die Grünen

Автор: Marius Ivaskevicius

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия: Literatur aus Litauen

isbn: 9783898968508

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СКАЧАТЬ erwidere ich.

      Wir warten und schweigen. Was sollten wir auch sonst tun. Wir sitzen da, als ob sich vor uns eine große Pfütze befände. Oder ein Sumpf. Kein Feld. Ja, etwas wie ein Meer. Und schauen dem sich entfernenden Kasperavičius nach. Wird er nicht einsinken?

      So pflegte der Graf dazusitzen. Im Frühling zwölf bis fünfzehn, im Sommer und manchmal im Herbst, wenn der Wind nicht zu stark blies. Vor 1912 war er durch die Welt gezogen, ab 1915 war er krank. Und im Frühling zwölf bis fünfzehn, im Sommer, im Herbst und manchmal auch im Winter liebte er es so dazusitzen. Manchmal kam er allein her, manchmal mit seiner Frau, doch stets brachte er einen Schaukelstuhl mit. Und rauchte gute Zigarren. Niemand anderer in unserer Umgebung rauchte solche Zigarren. Der Stuhl schaukelte im Sand bis er stecken blieb. Dann blickte der Graf starr vor sich hin. Doch vor ihm befand sich das Meer, vor uns – im besten Fall ein Feld.

      Kasperavičius hat es offenbar mehr als einmal erfolgreich ohne Einsinken durchquert.

      Möchte ich ein Graf sein, so komme ich hierher und setze mich hin. Nur ging er zwölf bis fünfzehn ganz allein zu allen Jahreszeiten hin, um sich als »Randmensch« zu fühlen. »Randmensch« im Staat – den er vor dem Meer schützte. Mein Wunsch ist es, ein ganz Gewöhnlicher zu sein. Ich komme hierher, zu diesem Feld, um mich mit eigenen Augen davon zu überzeugen, dass das Land mich schützt.

      Dann brüstete sich Graf noch gern mit seinem neuen Landungssteg. Ein langer Landungssteg, der sich ins Meer gebohrt hatte. Wie ein adliger Finger, der der nichtadligen Natur zeigte, wer hier wem untertan ist. Ich habe keinen Landungssteg. Und nichts könnte bezeugen, dass manchmal Leute aus dem Wald zu diesem Feld kommen. Darauf achte ich genau.

      Dann organisierte der Graf, um das Meer zu übertönen, auch noch gerne Konzerte. Eine gewaltige Symphonie plärrte dann so laut, dass das Wasser verstummen musste. Manchmal konzertieren auch wir. Wir plärren scheußlich verstimmt irgendein Lied daher. Dies passiert aber nur, wenn es stürmt, donnert, Bäume ausreißt, mit einem Wort, die Natur darf ihr Herumtollen nicht unterbrechen. Dann kann man in seiner Höhle nach Lust und Laune blöken und brüllen.

      Der Graf ist der, der am Anfang von alledem stand. Der Mensch, der seine Bürger nicht vor dem Meer schützte. Die Natur hat sich über uns erhoben.

      Es geschah an einem Sommernachmittag 1915, einem ganz normalen Geburtstag des Grafen. Als das Orchester ankündigte, zu wessen Ehren Mozart gespielt werde. Einen Fuß weit vom Meer sitzend blätterte er in seinen Partituren und verkündete: »Mozart – für den Grafen«. Und vom Meer – kein Wort.

      Damals hockte ich in den Dünen, überflog mit den Augen das Meer, wog die Kräfte des Grafen ab und kam mit meinem kindlichen Verstand zu dem Schluss: das Meer wird die Ouvertüre über sich ergehen lassen, dem Grafen aber droht das Finale.

      Ich war sechs. Ich beobachtete das Meer, das Orchester, die Familie des Grafen, den Baumstamm und Kasperavičius. Und Elena – ein Mädchen im Badekleid, unter dem es noch nichts zu verbergen gab. Darunter war genauso nichts wie in der Ankündigung, das Orchester spiele jetzt Mozart für den Grafen. Außer etwas vielleicht, was das Meer verärgern sollte.

      Sie zog hier Kreise im Sand. Nur das konnte sie wirklich. Mit dem großen Zeh einmal um sich selbst – das war ihre Erfindung. Ein Bein bewegt sich nicht, das andere – wie ein Zirkel. Sie – Elena.

      Und all das hat der Graf nicht für die Zukunft bewahrt, indem er einen einzigen Fehler beging, zu sehr an sich glaubte.

      Deshalb komme ich jetzt hierher und sitze am Rand dieses Feldes – um jenen Fehler zu vermeiden.

      Juozas Kasperavičius, der jetzt mit dem Fuhrwerk zurückkehrt, war damals nur ein namenloser Rotzbengel mit unbedecktem Vorder- und Hinterteil. Er stieg gern auf vom Meer angeschwemmte Baumstämme. Breitete die Arme aus wie ein Meerhuhn und bohrte sich kopfüber in eine Pfütze, die ein Sturm hier zurückgelassen hatte. Stand wieder auf, stieg auf den Baumstamm, die Arme wieder weit von sich gestreckt und noch einmal kopfüber auf Grund. Ein Meerhuhn – das war Kasperavičius. Als ob er die Pfütze durchstoßen und dann umgehend hier auftauchen könnte – am einundzwanzigsten August 1950 am Rand eines Feldes, durch das zu waten um nichts einfacher war als übers Wasser.

      Ein nackter Rotzbengel mit unbedecktem Vorderteil … Doch schon ist er hier und wir stehen auf und wollen einsteigen.

      »Was gibt’s Neues?«

      »Schüsse«, antwortet Kasperavičius mit dem ernsthaftesten Gesichtsausdruck der Welt. »Und koreanische Flüche. Stellt euch vor, was für eine Stille. Man kann dem Krieg in Korea zuhören.«

      »Worüber fluchen sie?«, fragt Molkerei, während sie auf den Wagen klettert.

      »Kein Wort über dich.«

      »Über Molkerei nur Gutes oder überhaupt nichts.« Sie macht es sich in der Mitte des Wagens bequem, ihr Gesicht wendet sie Kasperavičius zu.

      »Deshalb erzählen sie ja auch nichts … Hast du denn auch nur einem einzigen Schlitzauge zu spüren gegeben, wie gut Molkerei ist?«

      »Den Koreanern werde ich das niemals erlauben.« Sie knöpft ihr Hemd zu, als ob die, die in Korea Krieg führen, sie von dort aus sehen könnten. »Man sagt, die seien für nichts zu gebrauchen.«

      »Wer sagt das?« Kasperavičius lässt die Peitsche knallen. »Nach Korea?«, dreht er sich zu mir um.

      Bartkus und Mozūra nehmen auf der linken, die beiden Palubeckas auf der rechten Seite Platz. Ich setze mich hinten in den Wagen.

      »Nach Korea«, gebe ich Kasperavičius zur Antwort, »falls es dort ein Stauwehr und ein Stück unter den Bäumen versteckte Seife gibt.«

      »Dort ist wirklich Krieg«. Er lässt die Peitsche noch ein paarmal knallen und das Pferd trabt los. »Nach Korea«, wiederholt Juozas.

      »Ja«, sage ich, »nach Korea.«

      Wir sind unterwegs zum Baden im Fluss.

      An eines der Wagenräder hat aus irgendeinem Grund jemand einen Motorradreifen angenagelt.

      »Schönling«, sagt Molkerei voller Bewunderung, den Blick auf irgendetwas weiter vorne gerichtet.

      »Das Pferd?«, frage ich nach.

      »Ja, das.«

      »Ungezähmt«, erwidere ich ihr.

      »Ungezähmt«, wiederholt sie geheimnisvoll.

      Sie sagt noch etwas, doch ich höre ihr nicht zu.

      »Ich habe nicht zugehört«, sage ich.

      »Den Pimmel, oder den Feind«, wiederholt sie.

      »Schrei doch nicht so«, bittet sie Bartkus, denn Molkerei brüllt und wir fahren über das Feld, das Kasperavičius überquert hat, während wir ihm beobachteten, ob er nicht einsinken würde.

      Doch das treibt Molkerei nur noch mehr an.

      »Pim-mel«, skandiert sie im Stehen.

      »Sie ist ein hartes Weibsstück«, sagt Kasperavičius.

      Als ob er sagte: »Sie wird für uns alle kämpfen, wenn wir wegen ihr in die Klemme СКАЧАТЬ