Название: Aufregend war es immer
Автор: Hugo Portisch
Издательство: Bookwire
Жанр: Изобразительное искусство, фотография
isbn: 9783711053060
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Wir gingen in die Schule. Auch einige unserer bisherigen Professoren hatten sich eingefunden. Und versuchten, so gut es ging, uns doch noch etwas beizubringen, von der höheren Mathematik, der Chemie, der Physik und auch der Geschichte. Der Geschichtsprofessor hieß diesmal Homann und bestand darauf, dass wir uns dem Studium der Geschichte der österreichisch-ungarischen Monarchie zu widmen hätten. Einige Schüler murrten, fanden offensichtlich gerade Österreich-Ungarn nicht zeitgemäß. Aber Homann hatte sich das wohl genau überlegt, setzte sich in Pose und sagte mit Nachdruck: »Ihr werdet noch alle der österreichisch-ungarischen Monarchie nachweinen.« Was er damit meinte, verstanden wir, so glaube ich, im Moment alle nicht. Aber ich musste seither oft daran denken.
Trotz der verkürzten Schulzeit nahmen wir das Abitur sehr ernst. Und folgten auch den Traditionen, die in Preßburg anlässlich der Matura immer schon wahrgenommen wurden. Die Schüler wurden mit ihrem Klassenvorstand fotografiert und das Foto als großes Tableau im Schaufenster eines der Geschäfte auf der sogenannten Promenade der Stadt ausgestellt. Das Publikum war also eingeladen, die Maturanten zu bewundern und ihre Leistung zu würdigen. Dazu gehörte noch etwas: Die Maturanten trugen im letzten Monat ihrer Schulzeit ein dünnes, grünes Band im Knopfloch als stolzes Zeichen ihres geglückten Studiums. Auch das grüne Bändchen trugen wir jetzt.
Meine Freunde, Fritz Pospiech, Egon Korinek, Viktor Lacko, und ich beschlossen, zur Feier dieser Matura zum ersten Mal in unserem Leben in eine Bar, einen Nachtclub zu gehen. Den gab es und er befand sich in einem Keller. Auf dem Weg hinunter legten wir unsere Mäntel in der Garderobe ab. Der Oberkellner schätzte uns richtig als nicht sehr zahlungskräftige Gäste ein und setzte uns hinter eine Säule in die letzte Ecke des Lokals.
Die Bühne konnten wir nur mit Mühe sehen. Aber zu hören war alles und eine Sängerin begann gerade einen damals populären Schlager zu singen: »Stern von Rio, du könntest mein Schicksal sein …« Sie kam nicht sehr weit, plötzlich krachte es, der Plafond des Lokals stürzte teilweise ein, danach prasselte durch das Loch eine Ladung Kohle, die im Keller darüber gelagert war. In das Haus hatte eine Bombe eingeschlagen. Eine sowjetische Bombe, wie wir später erfuhren. Das Lokal lag in unmittelbarer Nähe einer von deutschen Truppen besetzten Kaserne, die das Ziel des nächtlichen sowjetischen Luftangriffs war. Es gab in diesem Lokal viele Verletzte. Uns hatte die Säule geschützt, hinter die uns der Kellner gesetzt hatte.
Der Maturalehrgang sollte Ende April beendet sein, aber am 4. April 1945 erreichte die Rote Armee bereits die Vororte von Preßburg. Wir liefen in die Schule. Hier saß unser Klassenvorstand Benno Smekal. Er hatte uns einmal erzählt, wie tapfer er war als k. u. k. Soldat im Ersten Weltkrieg. Jetzt bewunderten wir ihn. Das Donnern der Kanonen war gut zu hören, aber Smekal blieb ruhig und stellte unsere Zeugnisse aus. Dann entließ er jeden von uns mit Händedruck und sagte: »Viel Glück.«
Mit dem letzten Zug, der den Preßburger Hauptbahnhof verließ, fuhren meine Mitschüler und ich nach Wien, eskortiert von einem Unteroffizier, der uns aus dem in Trümmern liegenden Ostbahnhof in das Arsenal führte. Im Arsenal hätten wir rekrutiert werden sollen. Aber die Mühe machte man sich nicht mehr. Die Rote Armee hatte auch schon den Stadtrand von Wien erreicht. Man drückte uns Marschbefehle in die Hand – nach Prag, mit dem Namen der Kaserne, in der wir uns zu melden hätten. Es fuhren noch Züge nach Prag. Und unsere Mitschüler machten sich auf den Weg zum Franz-Josephs-Bahnhof.
Ich hatte eine andere Idee und besprach sie mit meinen Freunden: Wir könnten über St. Pölten, Linz und Böhmisch Budweis nach Prag fahren. Die Fahrtroute war im Marschbefehl nicht vorgeschrieben, nur das Ziel. In St. Pölten, Oberwagram befand sich der Bauernhof meiner Großeltern. Und meine Eltern hatten schon vor einigen Tagen die Fahrt dorthin angetreten. Die könnten wir noch einmal sehen. So fuhren wir mit der Straßenbahn zum Westbahnhof. Da ging heute kein Zug mehr nach St. Pölten. Erst am nächsten Morgen um sieben Uhr.
Vor dem Westbahnhof befand sich eine Unterkunft für Reisende: Es war ein Tunnelsystem und sollte wohl auch als Splittergraben bei Bombenangriffen dienen. Geleitet wurde die unterirdische Unterkunft von einer Oberschwester. Es gab noch einige freie Betten. Wir wurden aufgenommen, aber merkwürdigerweise aufgefordert, unsere Schuhe auszuziehen und zur Aufbewahrung abzugeben. Ich hielt das für eine hygienische Maßnahme. Die Schwester versprach, uns um sechs Uhr früh zu wecken. Wir suchten die uns mit Nummern zugewiesenen Betten auf.
Ich erwachte, sah auf die Uhr, es war 15 Minuten nach sechs. Wir waren nicht geweckt worden. Ich lief zur Oberschwester. Nein, teilte sie mir mit, Tagwache gäbe es erst um sieben Uhr, niemand werde früher geweckt, da alle hier anwesenden Soldaten zu einer Volkssturmeinheit zusammengefasst würden. Aber wir waren noch keine Soldaten, wir waren in Zivil und hatten einen Marschbefehl nach Prag. Ich wartete keine Antwort mehr ab, lief durch das Tunnelsystem und rief laut die Namen meiner Freunde, denn wo sie schliefen, wusste ich nicht. Sie hörten mich und kamen, wir holten unsere Schuhe ab, verließen die Unterkunft und gingen zum Bahnhof. Dort drängte sich eine Menschenmenge durch einen schmalen Zugang zum Bahnsteig. Alle wurden kontrolliert, mit unseren Marschbefehlen konnten wir ungehindert passieren.
Für die Fahrt nach St. Pölten benötigte der Zug mit vielen Aufenthalten nahezu drei Stunden. Er kam auch nur bis zur Bahnbrücke über die Traisen, der Bahnhof selbst lag in Trümmern, er war von amerikanischen Fliegern bombardiert worden. Wir liefen die Bahnböschung hinunter und durch den Stadtpark auf den Weg nach Oberwagram, wo sich der Bauernhof meiner Großeltern befand. Meine Großeltern lebten nicht mehr, aber der Bruder meines Vaters, seine Frau und seine Tochter bewirtschafteten das Anwesen. Einer der Söhne war im Krieg gefallen, ein zweiter noch bei der Wehrmacht. Meine Eltern waren schon da und auch wir wurden freundlich aufgenommen.
Hier hätten wir das Ende des Krieges abwarten können. Um Wien wurde bereits gekämpft, es konnte also nur noch wenige Tage dauern, bis die sowjetischen Truppen auch hier eintrafen. Und einen Entschluss hatten wir bereits gefasst: Wenn nur irgend möglich, nicht in die Waffen-SS! Doch hierbleiben konnten wir auch nicht. Das Haus lag an einem Hügel – und diesen wollten die deutschen Truppen offenbar verteidigen. Jedenfalls erschienen sie in unserem Haus und nahmen den von uns eben erst verlassenen Heustadel als Unterkunft in Anspruch. So zogen wir weiter – nicht vom bombardierten St. Pöltener Bahnhof, aber vom Mariazeller Bahnhof ging noch ein Zug nach Linz. Er war voll mit Flüchtlingen aus den Balkanstaaten. Bei Kleinmünchen wurde unser Zug angehalten, alle männlichen Reisenden mussten zur Kontrolle aussteigen. Einige Passagiere verfügten offenbar nicht über die richtigen Papiere, sie wurden von den Kontrolloren abgeführt. Wir aber blieben mit unseren Marschbefehlen unbeanstandet. Bevor wir wieder einsteigen konnten, warf ich noch einen Blick zurück und traute meinen Augen nicht: Nicht weit von der Kontrollstelle stand ein Baum, an dem zwei Menschen aufgehängt waren. Hätte uns das auch passieren können, fragten wir uns. Konnte uns das noch passieren? Andererseits: Wie viel Zeit blieb uns noch, um von Wien nach Prag zu gelangen, ohne als Wehrdienstverweigerer zu gelten? Von jetzt an nahmen wir dieses Risiko bewusst auf uns. Lange konnte der Krieg nicht mehr dauern.
In Linz mussten wir in einen Zug nach Böhmisch Budweis umsteigen. Der aber fuhr erst am nächsten Tag – und er war dann so voll besetzt, dass wir nur noch zwischen den Waggons auf den Stoßdämpfern stehend mitfahren konnten. In Budweis mussten wir zwei weitere Tage auf einen Zug nach Prag warten.
In Prag, das hatten uns Mitreisende erzählt, da gäbe es auf dem Wenzelsplatz ein populäres Büffet namens »Koruna«, ein Zentrum des Schwarzmarkts. Dort könne man Zigaretten gegen Lebensmittelmarken eintauschen. Ich hatte viele Zigaretten im Koffer, denn – das war mir schon in Preßburg geraten worden – mit Zigaretten und Schnaps komme man überall weiter. In Prag angekommen, führte uns der erste Weg prompt ins »Koruna«. Das war wirklich überraschend: Für sechs Zigaretten erhielt ich tatsächlich einen Laib Brot! Überhaupt sah hier alles so aus, als lebe die Stadt in tiefstem СКАЧАТЬ