Название: Gesammelte Werke
Автор: Ernst Wichert
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9788027237517
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Wie in einer Gruft hatte Heinz monatelang gelegen; nun konnte er sich gar nicht trennen von diesem Platz am Fenster, der einen Ausblick in die Welt erlaubte. Es war ihm ein interessantes Schauspiel, die Bauern mit ihren Schleifen ankommen und abfahren, die Brettschneider arbeiten, die Juden eifrig hin und her laufen und mit komischheftigen Gebärden Befehle austeilen zu sehen. Bald kannte er jeden von den Leuten in den weißen Schafspelzen, jedes ihrer struppigen Pferde. Ich möchte wohl auch einmal auf dem Schlitten sitzen und mitfahren in den Wald, äußerte er seufzend. Ob ich wohl noch eine Axt schwingen könnte?
Seid nur hübsch folgsam, antwortete sie, so mögt Ihr's bald erproben.
Er wollte nun nicht mehr zulassen, daß sie den ganzen Tag ihm Gesellschaft leiste. Er wisse ja doch, daß sie sich gern im Freien bewege, reite und jage, und wolle es nicht zu verantworten haben, daß sie sich seinetwegen Entbehrungen auflege, da ihm doch in ihrer Abwesenheit nichts begegnen könne, als daß er sich langweile. Das sollt Ihr eben nicht, sagte sie darauf; wer sich langweilt, kommt auf schlechte Gedanken, und ich möchte gern, daß es immer freundlich in Euch aussehe.
Ihr wollt, daß ich immer nur an Euch denke, scherzte er.
Sie senkte die Augen und schlug sie gleich wieder auf. Das wäre mir das Unliebste nicht, entgegnete sie lächelnd.
Der Kaplan verstand das Schachspiel. Er mußte es sie lehren, und sie konnte nun stundenlang geduldig Heinz gegenübersitzen und aufmerken, daß die Figuren sich richtig bewegten und ihr kein Vorteil entgehe. Er war kein geschickter Spieler, zog immer rasch und oft unbedacht. So hatte sie meist die Freude, ihn matt zu setzen. Ihr seid gar nicht aufmerksam, schalt sie, und macht mir's allzu leicht.
Das kommt, weil ich Euch gern zusehe, antwortete er galant, wie Ihr sinnend auf die Figuren blickt und wohl dreimal zierlich den Finger darauf legt, bis Ihr sie einen Schritt fortbewegt. Ich habe Euch früher so vorsichtig nicht erkannt.
Ich will künftig die Hand unter dem Tische behalten, sagte sie, bis mein Entschluß reif ist.
Sie handelte auch eine Weile danach. Nun haschte er aber, unter der Platte weg, ihre Hand und hielt sie fest, als sie eben nach der Figur greifen wollte. So kommt die Partie nicht zu Ende, meinte sie, ohne sich ernstlich zu sträuben.
Sie steht schlecht genug für mich.
Oh, Ihr könnt sie noch gewinnen! Wenn ich an Eurer Stelle wäre ...
Nun – was tätet Ihr?
Soll ich Euch spielen helfen – gegen mich?
Ihr seht's lieber, wenn ich verliere.
Ich … Gebt mich frei! Sie bat mit den Augen.
Ich bin ja Euer Gefangener.
Nein, ich bin der Eure, wie es scheint. Aber ich will mich mit einem guten Rat lösen. Gebt acht, Junker, Euer Turm ist bedroht!
Ich mag ihn nicht entsetzen.
Sie zog rasch ihre Hand fort und warf die Figur vom Brett. So nehme ich ihn ohne Gnade. Dazu lachte sie recht schelmisch, daß die weißen Zähne blitzten. Das ganze Gesicht war wie mit Purpur übergossen.
Es sollte Scherz sein. Aber so leicht Heinz sich auch darüber zu denken bemühte, er mußte sich doch eingestehen, daß die Nähe des sehr reizenden und ihm so ganz ergebenen Mädchens einen immer zwingenderen Einfluß auf ihn übte. Er war jung und dankte Natalia das Leben, das ihm wieder lieb zu werden anfing. Er dankte es ihr, darüber war ihm kein Zweifel. Die Quellen des Lebensgenusses, die während des langen Siechtums schon ausgetrocknet waren, hatte sie wieder frisch sprudeln lassen; der Arzt galt ihm nur als ihr Werkzeug, sie selbst war die eigentliche Heilkünstlerin. Er redete sich gern ein, daß sie ihm einen Zaubertrank eingegeben habe, der ihn nun wider seinen Willen zwinge. Und nun so viel mit ihr allein – und nicht mehr ein Todkranker ...!
Heinz brauchte schon nicht mehr des Kaplans Beistand beim Aufstehen. Des Morgens, ehe die liebe Freundin kam, übte er sich im Gehen und in allerhand verlernten körperlichen Bewegungen. Er trat in die Waffenkammer neben seinem Stübchen, hob ein Schwert von der Wand und versuchte es zu schwingen. Aber das erstemal sank ihm sofort der Arm nieder, und auch am dritten und vierten Tage noch zitterte ihm nach wenigen Lufthieben die Hand. Mit welcher Leichtigkeit hatte er sonst eine Armbrust gespannt! Nun strengte er vergebens alle Kraft an, die Sehne in die Kerbe zu ziehen: kaum bewegte sie sich ein wenig über der Pfeilrinne hin und her. Aber jeden Morgen nahm er sie wieder zur Hand und erprobte daran seine wachsende Kraft.
Sie wurde ihm geradezu das Maß für den Fortschritt seines Gesundens. An dem Tage, sagte er sich, an dem ich die Armbrust spannen kann, werde ich wieder ein Mann sein! Immer ungeduldiger sehnte er ihn heran.
Und er kam. Nach einer Nacht, die er in tiefem Schlafe zugebracht, fühlte er sich am Morgen wundersam gestärkt. Alle Glieder streckten sich leicht, die Brust war ihm frei, er fühlte nicht mehr den mindesten Schmerz. Sofort faßte er die Sehne mit beiden Händen und zog sie kräftig; zu seiner freudigen Überraschung sprang sie beim ersten Ruck in die Kerbe ein. Er drückte ab und wiederholte den Versuch – nochmals und nochmals. Kaum merkte er etwas von Ermüdung. Aus einem Holzkasten, der in der Kammer stand, nahm er einen Pfeil, legte ihn in die Rinne, trat ans Fenster und stieß den Flügel auf. Eine Krähe flog mit heiserem Geschrei vorüber. Er legte an und schickte ihr den Pfeil nach. Getroffen! Sie überschlug sich in der Luft und fiel mit zerschmettertem Flügel in den Schnee am Grabenrande.
Er hatte seine Gesundheit wieder. Eine Weile stand er am offenen Fenster und schaute nach dem Vogel aus, dessen Blut den Schnee rot färbte. Er war nicht tot, sondern drehte sich, mit dem gesunden Flügel schlagend, im Kreise. Meine Hand hat doch nicht die frühere Sicherheit, murmelte Heinz. Nur der Flügel zerschlagen! Sonst traf ich besser. Das arme Tier tat ihm leid. Er hätte ihm gern den Garaus gemacht und dann seine erste Jagdbeute hinaufgeholt, sie Natalia als Beweisstück vorzuzeigen. Aber nach dem Graben hin hatte der Turm keinen Ausgang; es wäre nötig gewesen, den Schloßhügel zu umgehen, und das war ein ziemlich weiter Weg.
Weshalb sollte er davor erschrecken? Er warf den Pelzrock über, mit dem er sich nachts bedeckte, wählte aus der Kammer eine Kappe von Hundefell, die man Hundskogel nannte, und verließ das Turmgemach.
Wie er die Steintreppe hinabstieg, zitterten ihm ein wenig die Knie. Es war weniger körperliche Schwäche als innerliche Aufgeregtheit: er kam sich vor wie ein Gefangener, der nach langer Kerkerhaft zum erstenmal wieder unter den freien Himmel treten soll, oder eigentlich wie ein Ausbrecher, der den Vorteil einer offengelassenen Tür benutzt und sich mit Herzklopfen durch einen dunklen Gang tastet. Als er unten in der Vorhalle angelangt war und sich umschaute, kam er auf andere Gedanken. Die Pforte zur Kapelle stand halb offen; es drang ein Duft von Weihrauch und verlöschten Wachskerzen hinaus. Wahrscheinlich hatte der Kaplan vor kurzem die Morgenandacht gehalten. Durfte er bei seinem ersten Ausgang an der Kapelle vorbeigehen? Noch hatte er nicht Gott gedankt für seine Rettung aus Todesnot – er erinnerte sich, daß Pater Stanislaus ihn gemahnt hatte, die Kapelle zu besuchen, sobald die Treppe kein Hindernis mehr sein werde. So wandte er den Schritt und trat an die Pforte, zunächst nur neugierig in den halbdunklen Raum hineinspähend.
Das Tageslicht fiel gedämpft durch zwei schmale, sehr tiefe Fenster mit bunten Glasscheiben in das hochgewölbte Gemach. Zwischen ihnen stand СКАЧАТЬ