Название: Levin Schücking: Historische Romane, Heimatromane, Erzählungen & Briefe
Автор: Levin Schücking
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9788075838650
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»Und Sie,« sagte die unglückliche Frau, »wann sehe ich Sie wieder? Sie werden mich nicht verlassen in der fremden Stadt, wo ich keinen Menschen kenne, wo ich ganz allem dastehe, niedergeschmettert von solch einem entsetzlichen Unglück!«
»Ich würde nicht daran denken, Sie zu verlassen,« sagte er, »wenn nicht der Tod Ihres Mannes in eigentümlicher Weise meine eigenen Angelegenheiten berührte. Ich kann Ihnen das jetzt nicht näher erklären – aber ich bin veranlaßt, mich ebenfalls auf den Schauplatz des Verbrechens zu begeben. Vielleicht sehen wir uns dort!«
»Nun, so gehen Sie,« sagte die Gräfin weinend, »tun Sie dort alles, was in meinem Interesse ist und was dazu dienen kann, dem Verbrecher auf die Spur zu kommen, der diese entsetzliche Tat begangen hat!«
Dabei reichte sie ihm die Hand und fügte hinzu: »Ich muß dem Himmel danken, daß ich in Ihnen einen Freund in dieser schrecklichen Lage gefunden habe. Ohne Sie wäre ich jetzt ganz ratlos und verlassen. Wollen Sie mir nicht sagen, wie ich Sie nennen muß? Noch weiß ich nicht, wie der einzige Beschützer, den ich in diesem Augenblick habe, sich nennt!«
»Ich bin gern bereit,« versetzte der Fremde, »Ihnen meinen Namen zu sagen. Ich heiße Richard von Huckarde. Aber ich habe Gründe, zu wünschen, daß meine Anwesenheit fürs erste unbekannt bleibe.«
»Ihr Name soll nicht über meine Lippen kommen,« versetzte die Gräfin und dabei reichte sie ihm zum zweitenmal die Hand zum Abschied.
Richard von Huckarde – den unsere Leser längst in dem Reisegefährten der hübschen Gräfin vermutet haben – eilte, nachdem er die Pflicht der Nächstenliebe, welche er zu haben glaubte, erfüllt, auf sein Zimmer im Gasthofe; von hier ließ er sein Gepäck durch einen dienstbaren Geist zu dem Jugendfreunde bringen, von dem er der Gräfin von Epaville gesprochen, und dann schritt er durch die Straßen der Stadt raschen Ganges dem Tore zu, das nach den Grafenbergen hinausliegt; es war der Weg, der nach der Rheider Burg führte. Richard bedurfte keines Führers, um die kürzesten Fußpfade durch die Gehölze zu finden, welche die genannten Höhen bedecken. Er ging so rasch, daß bald die Schweißperlen auf seine Stirn traten; wie auf unermüdlichen Sohlen eilte er bergauf, bergab, ohne einen Augenblick zu rasten oder seine Schritte langsamer zu machen.
So kam es, daß er noch vor der Mittagstunde eine Erhöhung des Wegs erreichte, von welcher herab er den Blick auf das Tal der Wupper frei bekam. Das Gewässer schlängelte sich zu seinen Füßen durch die mattgrüne Talschlucht; vom andern Ufer winkte von ihrer Höhe herab die Rheider Burg und eine Strecke weit links, unten am Wasser, von seinen Gärten und grünen Wiesen umgeben, lag der Rheider Hammer.
Bei diesem Anblick hemmte Richard seine Schritte. Wie tieferschüttert warf er den Wanderstab aus seiner Hand und ließ sich auf einem vermodernden Baumstamm nieder, der zur Seite des Weges lag. Hier stützte er den Arm auf das Knie, das Haupt auf seine Hand, und so hinüberstarrend auf das Haus seiner Väter, das er seit so vielen Jahren nicht erblickt, das er mit so schwerem Herzen verlassen und jetzt mit so kummerbelastetem Herzen wieder erblickte, trübten sich seine Augen, bis er seine Wimpern feucht werden fühlte und dann plötzlich sein Antlitz mit seinen Händen bedeckte als ob er den Ausdruck der Empfindung, die ihn übermannte, selbst vor den Gräsern zu seinen Füßen verbergen wollte.
Die Hoffnungen, mit welchen er noch gestern sich getragen, waren verflogen. Sein Rechtsfreund hatte ihm auseinandergesetzt, wie wenig Aussicht für ihn da sei, von der belgischen Domänenadministration auch nur eine kleine Entschädigung für seine Ansprüche zu erstreiten!
Ein unnennbarer Schmerz und ein Gefühl unsäglicher Beklommenheit überfiel ihn. Es war ihm zumute, als werde ihm offenbar, daß dennoch eine höhere Macht über ihm walte; eine Macht, die er geleugnet und nicht anerkannt hatte, wenn ihm, wie einst so oft, Sibylle von ihr geredet. Aber diese Macht, unter deren Zauber stehend er jetzt sich fühlte, war keine gütige, väterlich waltende, an schützender Hand zu Zielen des Heils und des Friedens führende; nein, es war eine feindliche, boshafte, quälende, die in ihrer Feindseligkeit sich stets gleichblieb, die unbeugsam und unerweichlich ihn verfolgte und sein Leben mit mehr Schmerz belud, als er zu tragen vermochte; eine Gewalt, die er länger nicht bekämpfen konnte und vor deren Streichen es am weisesten sein mußte, sich zu beugen. Es lag etwas so tief Entmutigendes in diesen Gedanken Richards, daß er in diesem Augenblicke sich den Tod herbeiwünschte, sich nach der Vernichtung sehnte, in welcher allein eine Zuflucht zu liegen schien wider die dunkeln Unheilsgöttinnen, die er von seinem Schicksal wider sich losgekettet wähnte, die er immer aufs neue ihre dunkeln Schwingen über seinem dem Unglück geweihten Haupte regen fühlte.
»Ja, der Tod,« sagte er endlich tief aufatmend, »der ist’s, der mir übrig bleibt. Was könnte ich besseres tun, als dem Beispiele meines armen Vaters folgen! Armer, armer Vater! Gut, daß du in deinem Leid nicht ahntest, wie einst dein Sohn auf dasselbe Gewässer blicken würde, auf welches du blicktest, dieselbe Verzweiflung im Herzen, welche du darin trugst, dieselben Entschlüsse in der Seele wälzend, die in deiner Seele mit den Schauern des Todes rangen! – Bei Gott!« rief er dann aufspringend aus, »wenn dies alles so ist, wie man es mir in der Stadt erzählt hat – wenn Sibyllens Leben auch für ewig vergiftet ist, trotz ihres rührenden Vertrauens auf diesen Dämon, den sie ihre Vorsehung nannte, dann, ja dann weiß ich den Weg zu finden, den mein Vater fand.«
Mit diesen Worten sprang er auf, ergriff wieder seinen Stab und eilte nun hinab in das Flußtal einer Fähre zu, die ihn übersetzte – nach einer starken Viertelstunde stand er auf dem Hofe seines väterlichen Hauses.
Die große Portaltür, welche über einer hohen Treppe ins Innere führte, wich, als er den Drücker des Schlosses ergriffen, seiner Hand. Er trat in den Gang ein, der nach rechts der Fensterwand entlang lief. Zu gleicher Zeit öffnete sich am untern Ende dieses Ganges die Tür, welche in das Zimmer des Hausmeisters führte. Claus Fettzünsler trat auf die Schwelle und kam, nachdem er den Eintretenden einen Augenblick betrachtet, langsam herangehumpelt, um zu fragen, was er wolle?
»Ihr seid alt geworden, Claus!« sagte Richard von Huckarde, ihm die Hand entgegenstreckend, »wie geht es Euch, alte Seele!«
Claus blickte ihn verwundert an, ohne die Hand zu nehmen.
»Wer sind Sie, was wollen Sie?« fragte er mürrisch.
»Claus, kennt Ihr mich nicht mehr?«
»Nein,« sagte Claus, offenbar heute nicht im entferntesten geneigt, sein Gedächtnis anzustrengen, um den Fremden wiederzuerkennen.
»Ich bin ja Richard, Richard von Huckarde – der Sohn Eures alten Herrn.«
»So?!« versetzte der Hausmeister, »Seid Ihr Herr Richard? Ja, es ist richtig! Ihr seid es. Ihr seid schmäler und brauner geworden. Ja, es ist richtig, wahrhaftig, Ihr seid es. Wollt Ihr eintreten?«
Und damit hinkte Claus zu seiner Stube zurück, allem Anschein nach nicht im mindesten überrascht und erstaunt über die plötzliche Wiederkehr seines jungen Herrn – Claus gehörte nicht zu den Menschen, welche zwei Dinge von bedeutender Tragweite zugleich zu bewältigen verstehen – er war von der schrecklichen Geschichte, die sich in seinen vier Wänden ereignet, so vollständig СКАЧАТЬ