Название: Levin Schücking: Historische Romane, Heimatromane, Erzählungen & Briefe
Автор: Levin Schücking
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9788075838650
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Sibylle antwortete nicht. Wie versunken in einen tiefsten Gram, der sie für alles, was außer ihr vorging, unempfindlich machte, saß sie auf ihrem Stuhle da, das Gesicht noch immer in ihren Händen bergend.
»Ich bitte um Antwort, Mademoiselle,« sagte der Polizeibeamte scharf, »kennen Sie unsere Geschworenengerichte?«
Sibylle blickte auf und wandte ihm ihre totenbleichen, mit Tränen benetzten Züge zu.
»Glauben Sie denn wirklich, können Sie wirklich glauben,« antwortete sie mit stammelnder Lippe, »daß mein Vater...«
»Was kann Ihnen daran so viel liegen, Mademoiselle, ob ich glaube oder nicht glaube? Es hat für Sie gar keinen praktischen Wert, was ich persönlich glaube,« versetzte Monsieur Ermanns mit bitterm Lächeln; »lassen wir es also getrost aus dem Spiele und hören Sie mich jetzt ruhig an. Sehen Sie, das Geschworenengericht ist eine Einrichtung, die das Merkwürdige hat, daß sie – wenigstens wenn es sich um gebildete Leute handelt – für den Unschuldigen, der vor dasselbe gezogen wird, eine gerade so harte Strafe enthält wie für den Schuldigen. Man führt nämlich den Angeklagten in einen großen Saal. Ihm gegenüber setzt man zwölf ehrsame Bürger, Gevatter Schneider und Handschuhmacher hin, und dann läßt man herein, wer immer von Krethi und Plethi kommen will, sich die Geschichte anzugaffen. Dann gibt man sich einer ganz rückhaltlosen, durch keine Rücksicht eingeschränkten Erörterung seines Charakters, seiner Vergangenheit, seiner Verhältnisse hin – das alles vor der Menge des zusammengeströmten Volks, vor dem Pöbel, dem dieser öffentliche obrigkeitliche Skandal ein wahres Fest ist. Der öffentliche Ankläger häuft alle Schändlichkeit, die sich nur erfinden läßt, auf des unglücklichen Angeschuldigten Haupt. Er macht ihn schwarz wie die Hölle. Der Verteidiger eifert dagegen an; hat jener im Namen der beleidigten Tugend und Moral ihn zu einem wahren Dämon gestempelt, so macht ihn dieser im Interesse der Humanität zu einem Heiligen. Er legt den Heiligenschein aller häuslichen und öffentlichen Tugenden um ihn. Mit dem Flammenschwert der Beredsamkeit streiten beide um seine arme Seele, wie Teufel und Engel am Tage des Jüngsten Gerichts. Das alles in Gegenwart des Angeklagten; in seiner Gegenwart wird Zeuge nach Zeuge vorgeführt und durch einen Eid gezwungen, ihm ins Gesicht zu werfen, was er von ihm gesehen, gehört, jemals gedacht hat.
»Diese moralische Folter, diese wahre Höllenpein für den Angeklagten, weit schlimmer als fünf Jahre Gefängnis oder Festungshaft, findet statt, damit die zwölf Geschworenen befähigt werden, am Ende, nach Maßgabe ihres Mutterwitzes, das Verdikt zu fällen, das heißt, auf die Frage nach der Schuld des Angeklagten ja oder nein zu sagen.
»Denken Sie sich nun Ihren Vater in dieser Lage; stellen Sie sich lebhaft vor, was er in einer solchen Situation empfinden würde; denken Sie an sich selbst als Angeklagte auf der Bank der Verbrecher und dann antworten Sie mir: werden Sie nicht alles darum geben, diesem Schicksale zu entgehen, das Sie bedroht, das unabwendbar ist – das, ganz abgesehen von Schuld oder Nichtschuld, nach der Lage der Dinge, durch die zwingende Macht der Tatsachen, über Sie beide heraufgeführt werden wird? Denn das wird es, darüber machen Sie sich keine Täuschungen – es sei denn, wir kämen jetzt hier zu einer Verständigung, infolge deren ich Ihnen das Versprechen geben kann, daß Sie mit diesem entsetzlichen Schicksal, mit dem ganzen Jammer einer solchen Ausstellung, die schlimmer ist, als auf einem Sklavenmarkt verkauft zu werden, verschont bleiben sollen.«
Sibylle hob ihr tränenfeuchtes Gesicht auf und sah mit einem flehenden, fragenden Blick den Polizeibeamten an.
»Sehen Sie,« fuhr dieser fort, »die Geschworenen haben, wie ich Ihnen sagte, nur die Aufgabe, über das Ja oder Nein der Schuld zu entscheiden. Gesetzt also, ein zur Untersuchung Gezogener erklärte selbst seine Schuld; er gäbe ohne Rückhalt befriedigenden Aufschluß über die Tat und alle ihre Nebenumstände; er verschmähte es in irgendeiner Beziehung der Wahrheit untreu zu werden und stände mit offener Stirn und männlich ehrenhaftem Freimut für das, was er getan, ein – dann würde immer noch das Gericht ihn richten, aber es würde der Geschworenen Ausspruch dabei nicht bedürfen. Das Ja der Jury wird überflüssig, sobald der Angeklagte dies Ja selber spricht. Werden Sie mir also nicht folgen, wenn ich Ihnen den dringenden Rat gebe: legen Sie mir sofort ein offenes Geständnis ab und bewegen Sie dann auch Ihren Vater dazu, den ganzen Anteil, den er an diesen Mordtaten genommen hat, mir einzugestehen!«
Sibylle erhob sich jetzt groß und entschlossen, als ob all ihr Selbstbewußtsein ihr zurückkehre. Sie trocknete ihre Tränen ab und wies dem Beamten ein Antlitz, auf welchem jeder Zug das Gepräge stolzer Fassung trug.
»Ich danke Ihnen, mein Herr,« sagte sie, »für das, was Sie Ihre Freundschaft und Teilnahme für uns nennen. Ich will annehmen, daß sie aufrichtig gemeint sind. Obwohl eine wahre Teilnahme weniger vorschnell gewesen wäre, auf einen bloßen Schein hin, den eine unglückliche Verbindung von zufälligen Umständen erzeugt hat, an unsere Schuld zu glauben, meinen Vater für einen Mörder zu halten! Aber ich will Ihnen das verzeihen. Ihr Beruf mag Sie daran gewöhnen, die Menschen für schlecht zu halten. Das aber, mein Herr, erkläre ich Ihnen – solange Sie von dieser Voraussetzung ausgehen, werde ich Ihnen keine Antwort mehr geben. Verlassen Sie mich jetzt. Mag dann kommen was da will. Gott wird uns beschützen. Ich bitte, lassen Sie mich allein!«
»Weisen Sie im Ernste dem Freunde die Tür, Mademoiselle?« versetzte der Beamte ironisch. »Nun wohl, er weiß, was er einer jungen Dame schuldig ist und geht; aber der Polizeibeamte bedauert unendlich, daß er nicht so galant sein darf, er muß bleiben, bis er noch einige Aufklärung erhalten hat.«
»Welche Aufklärung verlangen Sie?«
»Wer ist der bewußte Deserteur?«
»Ich weiß weiter nichts von ihm.«
»Er nannte sich einen Deserteur?«
»Ja.«
»Was taten Sie, um sich zu überzeugen, daß er das in der Tat war und nicht etwa ein flüchtiger gemeiner Verbrecher?«
»Ich glaubte ihm.«
»Sehr vorsichtig!« versetzte der Beamte mit spöttischem Lächeln. »Wie nannte er sich?«
»Ich weiß nichts von ihm, gar nichts,« antwortete Sibylle. »Der Mensch ist mir in der Nähe der Rheider Burg bei einem Spaziergange begegnet – es sind seitdem vielleicht vierzehn Tage verflossen. Er hat mir seine Not geklagt.«
»Seine СКАЧАТЬ