Название: Im Alten Reich
Автор: Ricarda Huch
Издательство: Bookwire
Жанр: Документальная литература
isbn: 4064066388843
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Von Zeit zu Zeit tauchte im Schoße der Kammergerichtsgesellschaft der Wunsch auf, Wetzlar wieder zu verlassen. Man zählte alle Mängel der Stadt von neuem auf: ihre schlechten Wege, die schlechte Polizei, indem das Landvolk die Preise der Waren nach Belieben selbst bestimmte, die Baufälligkeit des alten Rathauses, die Lage des Kirchhofs inmitten der Stadt. Das Beerdigen am Markte, das in fast allen Städten des Reichs schon mit dem 16. Jahrhundert nicht mehr stattfand, verursachte so heftige und gefährliche Ausdünstungen, daß man, so hieß es, im Sommer vor Sonnenaufgang über dem ganzen Platz einen blauen Dunst wahrnehmen könne. Mit einiger Nachgiebigkeit hinsichtlich der Franziskaner und Jesuiten pflegte der Rat die Anstände zu überwinden; er verlegte nun sogar den Friedhof vor die Mauern, wo sich zwar zuerst niemand begraben lassen wollte. Wie man in manchen Sagen dem Teufel, der die Brücke gebaut hat und zum Lohn die Seele dessen fordert, der zuerst hinübergeht, einen Hahn oder Pudel entgegentreibt, so schickte man hier eine verstorbene Henkersgattin voran, womit der Bann gebrochen war.
Im Zusammenhang mit Beerdigungen entstand in der Mitte des 18. Jahrhunderts zwischen dem Kammergericht und der Stadt Wetzlar ein merkwürdiger Streit. Der damalige Kammergerichtspräsident Graf Karl von Wied verlor seine Gattin durch den Tod und wollte ihre Leiche nach dem Wiedschen Erbbegräbnis in Runkel führen. Da nun sowohl die Stadt Wetzlar wie der Landgraf von Hessen als Schutzherr der Stadt das Recht in Anspruch nahmen, dem Leichnam bis an die Grenze des Stadtgebiets das Geleit zu geben, kam es zu ernstlichem Streit und sogar zu Tätlichkeiten, worauf der Graf von Wied um des Friedens willen sich dazu bequemte, die Verstorbene in der Stiftskirche von Wetzlar beisetzen zu lassen, weniger nachgiebig als der Graf von Wied war die Witwe des ersten Kammergerichtspräsidenten, jenes unbeliebten, triumphierenden Freiherrn von Ingelheim, der dreiundachtzigjährig starb. Ohne sich durch die Wetzlarer Stiftskirche locken zu lassen, ließ sie den Leichnam in einen Sack stecken und in der Abenddämmerung durch Heiducken fortschaffen, die, wie man sich erzählte, an der Grenze den Sack über die Mauer geworfen hätten.
Es scheint nicht, daß die Anwesenheit des Kammergerichts der armen Stadt Wetzlar die erhoffte Blüte gebracht habe, wenn sie auch die Ursache war, daß der junge Goethe dort unsterblichen Liebesschmerz erlebte, der für alle Zukunft einen Glanz auf die alte Reichsstadt warf. Damals hatte sie nichts, um sich über ihr fadenscheiniges Dasein zu trösten, als das Bewußtsein einer schöneren Vergangenheit, das die Kaiser nährten, die ihrerseits an den letzten, ihnen gebliebenen Reichsrechten festhielten. Wenn der Landgraf von Hessen, der schutzherrliche Alp, allzu drückend wurde, wandte sich die Stadt klagend an den jeweiligen Kaiser, der dann verwarnend eingriff. Joseph I. schrieb dem Fürsten, er könne nicht gestatten, daß die Stadt Wetzlar an ihrer Unmittelbarkeit, ihren Landeshoheiten und Rechten, ihren Freiheiten und Privilegien, die sie kundbarlich von kaiserlicher Majestät und dem Reich habe, gestört und verkürzt werde; er versehe sich dazu, daß der Herr Landgraf aus dem ihm zustehenden Schutzrecht keine Gewalt und Obrigkeit machen wolle. Karl VI. erneuerte die Mahnung und fügte hinzu, er wolle nicht leiden, daß die Stadt Wetzlar gleichsam in eine Munizipalstadt umgeschaffen und unstatthaften Zumutungen ausgesetzt werde, sondern er wolle sie bei ihrer Unmittelbarkeit und den derselben anklebenden Gerechtsamen erhalten.
Als Joseph II. die Huldigung der Reichsstädte durch Kommissare einnehmen ließ, beschloß der Stadtrat im Verein mit dem Vertreter des Kaisers, dem Grafen Franz Spauer von Pflaum und Valme, die Festlichkeit mit Pomp zu begehen. Unter dem Läuten der Glocken und Donner der Geschütze hielt der Kommissar mit vier sechsspännigen Staatswagen und einigen vierspännigen Reisewagen seinen Einzug, begleitet von vier Hofkavalieren, nämlich einem Grafen von Spauer, einem Grafen von Firmian, dem Reichsgrafen Franz Karl von Metternich zu Virneburg und Beilstein und dem Freiherrn von Sternbach, von Edelknappen, Offizieren, Heiducken, Läufern und Lakaien und schließlich von der eigens errichteten und eingeübten Wetzlarer Bürgergarde, deren Offiziere blaue Uniformen mit gelben Unterkleidern und silberne Tressenhüte trugen. Am Neustädter Tore, wo die Ehrenpforte errichtet war, überreichten Bürgermeister und Rat die Stadtschlüssel und brachten ledige Bürgerstöchter einen Blumenstrauß mit schriftlichem Glückwunsch dar. Der Huldigungseid wurde auf dem Rathause geleistet, vor demselben fand die Huldigung der Bürgerschaft und zuletzt die der Judenschaft statt.
Trotz dieses Sichanklammerns an die Vergangenheit ging es abwärts. Im Jahre 1770 mußte die Wollenstrumpfweberzunft sich zahlungsunfähig erklären. Sie überließ die Walkmühle, die ihr gehörte, ihren Gläubigern und erklärte sich für aufgelöst. Ein großer Brand vernichtete mitten in der Stadt viele Häuser, darunter das Rathaus, den Sitz des Reichskammergerichts. Das alte Kaufhaus, wo der Stadtrat inzwischen getagt hatte, war schon Jahrzehnte vorher »bei einer gänzlichen Windstille« eingestürzt.
Jetzt sind neue Sterne über Wetzlar aufgegangen mit elektrisch hellem Licht: die beiden größten, umgeben von einem Gewimmel kleinerer, heißen Buderus und Leitz, Eisenwerke und optische Industrie, und haben der verarmten Stadt Zustrom von Geld und Menschen vermittelt. Vor ihnen erblaßt ein wenig der sanftschimmernde Himmelsstern Goethe, der sonst etwa Besucher nach Wetzlar lockte; aber noch heute suchen zuweilen welche das ehrwürdige Deutsche Haus auf, wo Amtmann Buff als Verwalter der Güter des Deutschen Ordens wohnte, und die anmutig vornehmen Räume, wo Lotte ihren Bräutigam und seinen glühenden Freund empfing. Kaum beachten sie den großartigen Zeugen des Mittelalters, den Dom, sowenig wie der junge Goethe, versunken in den Genuß seiner Schmerzen und seines Genius, ihn gewürdigt zu haben scheint.
Wenn man die schmale, steile Treppe hinaufsteigt, die von der Hauserstraße zum hochgelegenen Buttermarkt hinaufführt, steht man bestürzt vor dem phantastischen Bauwerk, das an den Turm von Babel erinnert, wie Maler des 16. oder 17. Jahrhunderts ihn etwa darstellten. Man fragt sich, ob das zum Dienst des Christengottes errichtet wurde, oder was für ungeheuren Göttern man hier Altäre baute. Allmählich entwirrt man sich das chaotische Gebilde: es ist ein Dom im Dom, ein alter romanischer Bau im Gehäuse eines gotischen, der nicht vollendet, so wie jener nicht ganz abgerissen wurde. Neben und hinter dem gewaltigen gotischen Turme steht der alte romanische aus schwarzem Basalt und ein dunkles altertümliches Portal mit zwei Rundbogen, in der Mitte getragen von einer zierlichen, adlergeschmückten Säule. Dieser Turm wird Heidenturm genannt, obwohl der spätere, gotische mit dem seltsam bekrönten Haupte titanischer wirkt. Der Eindruck der Absonderlichkeit läßt zuerst die Andacht der Schönheit nicht aufkommen; wenn aber die hereinbrechende Nacht das erhabene Ungetüm anhaucht und das beruhigte Monument, halb Pyramide, halb Obelisk erscheint, gibt man sich gern dem Zauber hin, der den gemütlichen Marktplatz in ein Fabelland verwandelt. Tatsächlich hat die so überraschend sich darstellende Kirche nichts Verfängliches oder Verhängnisvolles an sich; Protestanten und Katholiken teilen sich in sie, wie es scheint mit brüderlicher Vertraulichkeit.
Außer einigen schönen Häusern, die meistens aus dem 17. oder 18. Jahrhundert sind, dem Haus zum Reichsapfel, dem Gasthaus zum Römischen Kaiser, dem Gasthaus zum Adler am Kornmarkt, ferner dem Gasthaus zum Dom und dem Hotel zum Herzoglichen Haus, das zeitweise dem Kammergericht СКАЧАТЬ