Название: Mörder im Hansaviertel
Автор: Frank Goyke
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783356023657
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Barbara nahm die Teekanne – Tee! Auch vor einigen Jahren noch unvorstellbar gewesen! – und ging von der Küche durch den langen Flur ins Wohnzimmer. Auf dem Tisch lagen die Ordner, die sie mitgenommen hatte, und daneben das Schulterhalfter mit der SFP9. Bis vor einem Jahr hatte Barbara noch eine P6 von SIG Sauer gehabt, eine Modellvariante aus der SIG-Serie P220, die bei der Polizei Mecklenburg-Vorpommerns auch noch im Einsatz war, aber nicht mehr neu vergeben und nach und nach durch die Selbstladepistole von Heckler & Koch ersetzt wurde. Sie lag dort, wo sie eigentlich nicht liegen durfte. Es war Vorschrift, dass Polizeibeamte im Dienst eine Waffe trugen, und die morgige Fahrt nach Biendorf war ein dienstlicher Einsatz. Die Pistole mit nach Hause zu nehmen, war nur in Ausnahmefällen und auf Weisung des Dienststellenleiters gestattet, die Hauptkommissarin hätte sie also in ihr Waffenfach einschließen und am kommenden Morgen in der Ulmenstraße abholen müssen. Dazu hatte sie nicht die geringste Lust, also verstieß sie einmal mehr gegen die Dienstvorschrift. Bisher war es eigenartiger Weise noch niemandem aufgefallen, obwohl sich doch jeder Kollege fragen musste, wie es möglich war, dass sie mit einer Waffe unterwegs sein konnte, die sie gar nicht abgeholt hatte.
Schmunzelnd schlug Barbara Riedbiester den ersten Ordner der Hauptakte auf. So richtig motiviert war sie nicht und hätte viel lieber in dem Buch geschmökert, dass ihr Uplegger empfohlen hatte. Genauer gesagt, hatte er eine Empfehlung seiner Kerstin weitergeleitet. Auch die Ostsee-Zeitung hatte es gelobt. »Lütten Klein: Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft«, so lautete der Titel, und ein aus Rostock stammender Soziologe hatte es verfasst.
Barbara würde es später lesen, an einem freien Tag. Der Biendorfer Waldmord hatte Vorrang. ›Am 18. Juli 2007 hatte die Krankenschwester …‹ Ihr Telefon intonierte die ersten Takte von »Lady Greensleeves«, ihr Klingelton seit Anno Krug. Wahrscheinlich rief Claudia an, um etwas fürs nächste Wochenende zu verabreden. Gutgelaunt zog sie ihr iPhone unter der Akte hervor. Als sie die Nummer des Anrufers erkannte, verdüsterte sich ihre Miene. Der Feierabend, der ohnehin kein richtiger geworden wäre, war vorbei.
Jonas Uplegger war von Kerstins geradezu überbordendem Appetit überrascht worden: Sie hatte nicht nur eine scharfe mexikanische Suppe und ein 400-Gramm-T-Bone-Steak haben wollen, sondern verlangte sogar noch ein Dessert, während er sich mit Spareribs begnügt hatte. Eigentlich war er nicht geizig, aber er sah eine Rechnung auf sich zukommen, die einen Betrag um die 70 Euro ausweisen würde, und das fand er dann doch happig; das »Viehfutter«, das er eigentlich fürs Abendessen vorgesehen hatte, war nur mit 9,23 Euro zu Buche geschlagen.
Er schmunzelte. Barbara Riedbiester, die im Kommissariat immer noch Dampframme genannt wurde, obwohl sie in beachtlichem Umfang abgespeckt hatte, würde vermutlich sagen: »Kollege Uplegger, auch bei Ihnen klaffen Selbst- und Fremdwahrnehmung eklatant auseinander. Sie halten sich für freigebig. Andere finden Sie geizig.« Wahrscheinlich hätte sie damit recht. Seine Selbstwahrnehmung stammte aus der Vorzeit. Er war wohl wirklich immer sparsamer geworden, oder eben immer geiziger. Und hatte jetzt sogar einen Vorwand: Er müsse sparen für das Kind.
Noch etwas anderes stimmte, nämlich dass man mit zunehmendem Alter eigentümliche Wesenszüge annahm. Im nächsten Jahr würde er 52 werden, aber es zeigten sich schon erste Anzeichen einer Marotte: Jeden Abend bilanzierte er den Inhalt seines Portemonnaies. Während seine Kollegin vor einiger Zeit begonnen hatte, Geld beinahe suchthaft auszugeben, war er dazu übergegangen, bei jeder größeren Anschaffung eine Pro-und-Kontra-Liste aufzustellen. Er war ohne Zweifel auf dem Weg zum Geizhals und beschloss aus therapeutischen Gründen, noch so viel zu bestellen, dass die Rechnung wenigstens 100 Euro betragen würde. »Möchtest du noch etwas?«, erkundigte er sich.
Kerstin schüttelte heftig den Kopf. »Ich platze gleich«, sagte sie.
Er nahm ihre Hände. »Das kannst du mir nicht antun!«
»Aber hier ist der beste Ort dafür. Es gibt Personal, das saubermacht.«
»Ach«, seufzte Uplegger, der die Anspielung genau verstand. Seine zweite Marotte war ein Ordnungs- und Sauberkeitsfimmel, der auch immer schlimmer wurde. Neuerdings legte er das Druckerpapier auf Kante, was Barbara veranlasst hatte, einen Satz mit dem Wort »Zwangsstörung« vor sich hin zu murmeln.
Sein Mobiltelefon gab den grässlichen Rufton der Werkseinstellung von sich – von seiner Kollegin als »jenseits der Beschreibbarkeit« qualifiziert. Er hatte ihn nur deshalb nicht geändert, weil sie sich über den Lärm ärgerte. Ohne auf das Display zu schauen, nahm er den Anruf entgegen.
Keine fünf Minuten später hatte er gezahlt.
Zweites Kapitel
In der Nacht von Mittwoch, 23. Juni, zu Donnerstag, 24. Juni
Der Große Bahnhof in der ruhigen, um nicht zu sagen weltabgeschiedenen Schliemannstraße hatte einen Publikumsauflauf verursacht. Hauptkommissarin Riedbiester, die zunächst im Sunset Orange zur Polizeiinspektion gefahren war und dann den Katzensprung in die Schliemannstraße mit Uplegger in einem Dienstwagen zurückgelegt hatte, schätzte die Zahl der Schaulustigen, die von Blaulicht und Sirenengeheul angezogen worden waren, auf etwa 30, darunter etliche Kinder. Viele hielten ihr Smartphone in die Höhe, um das Ereignis für die Nachwelt festzuhalten und für die Mitwelt zu posten. Das Lichtspiel der beleuchteten Displays erinnerte an ein Popkonzert.
Dieser Teil des Hansaviertels war eigentlich so etwas wie eine feinere Gegend, aber Sensationslust war dem Menschen eigen, unabhängig von Einkommen und Bildungsgrad. Dem Publikum wurde aber auch einiges geboten, wobei das Aufregendste sicher die beiden silber-blauen Kastenwagen mit der Aufschrift Kriminaltechnik und die Außerirdischen in ihren Kontaminationsschutzanzügen waren, die, in weiße Overalls gehüllt und mit blauen Plastikpuschen an den Füßen, ihre Pistolen vorschriftsmäßig an dunklen Gürteln trugen und Koffer in ein Einfamilienhaus schleppten. Das war Fernsehen live. Weniger Beachtung fand hingegen ein etwas abseits abgestelltes Fahrzeug, das zwar die Farben der Polizeifahrzeuge trug, jedoch mit Gerichtsmedizin beschriftet war, eine Institution, die neben Neugierde auch Schauder und sogar Ekel erregte. Die beiden Leichenträger standen neben ihrem noch geschlossenen Fahrzeug, hatten ihre Mund-Nasen-Bedeckung bis zum Hals herabgezogen und rauchten. Barbara kannte keinen Mitarbeiter der unteren Ebene des Rechtsmedizinischen Instituts, der nicht am Glimmstängel hing, und die Fahrer und Träger sahen allesamt wie – gewesene oder aktive – Alkoholiker aus. Das galt im Übrigen auch für manche Ärzte, die den Fachbereich Forensische Alkohologie ziemlich weit auslegten.
Uplegger lenkte den Mercedes vor dem Absperrband an den Straßenrand. Es wimmelte von Kollegen in Uniform, die den Ort sicherten oder einfach nur herumstanden, während andere im Licht greller Strahler auf dem Grundstück unterwegs waren und es Quadratzentimeter für Quadratzentimeter nach Spuren absuchten – so sollte es jedenfalls sein, aber mitunter war das graue Theorie. Barbara und Uplegger hatten schon so manche unqualifizierte Tatortaufnahme erlebt, bei der beispielsweise der Zentimeter sehr großzügig ausgelegt worden war und in den Dezi-, wenn nicht gar in den Meterbereich ragte. Und leider gab es auch immer wieder Kriminaltechniker, die Spuren nicht sicherten, sondern zerstörten, etwa weil sie einen Kater hatten oder keine Lust.
Von der Mordkommission war zunächst niemand zu sehen. Das änderte sich jedoch, nachdem Barbara und Uplegger ausgestiegen und ein paar Schritte näher an die Grundstückszufahrt getreten waren: Dort versammelte sich die Blüte der Rostocker Kriminalistik, wie die Kommissarin СКАЧАТЬ