Название: Immer im Rampenlicht
Автор: Bernd R. Hock
Издательство: Bookwire
Жанр: Изобразительное искусство, фотография
isbn: 9783775175111
isbn:
8
»DER BU MACHT SEIN WECH«
Bevor ich den riesigen Opel durch die Lande steuerte, lenkte ich so manch anderes Gefährt. Meine allererste eigenständige Fahrt auf vier Rädern fand, wie könnte es anders sein, im Landauer Zoo entlang der heutigen Afrika-Anlage statt. Ich war überglücklich und trat in die Pedale eines Kettcars. Ich durfte dieses Gefährt ausprobieren, eroberte es im Sturm und war überglücklich, weil ich es ganz ohne fremde Hilfe fahren konnte. Großartig! Der eigentliche Fahrzeughalter, Oliver, beobachtete mich geduldig. Ich wollte gar nicht mehr absteigen und hätte am liebsten noch vor Ort meine Mutter mit der Enteignung des Besitzers beauftragt. Oli und ich waren beide um die dreieinhalb Jahre alt und wir begegneten uns an diesem Tag zum ersten Mal.
Doch ich gab Oli sein Kettcar zurück und bekam später ein eigenes. Unsere Kettcars sind längst verschrottet, die Herstellerfirma Kettler ist seit 2019 insolvent, aber meine Freundschaft zu Oli lebt und besteht nunmehr seit fast 50 Jahren.
Für meine Eltern war es gar kein Thema, dass auch ich in den Kindergarten gehen würde. Ich ging zuerst in die Langstraße zu Tante Liesel und später in den Kindergarten am Schützenhof zu Tante Dagmar. Die Berufsbezeichnung »Kita-Fachwirt/-in« war noch lange nicht geboren, nicht einmal gezeugt und auch von Erzieherinnen und Erziehern wurde nicht gesprochen. Sogar die Bezeichnung Kindergärtnerin wurde selten gebraucht. Es waren schlicht die Kindergartentanten. Auch wenn allzu oft in den Rückspiegel geguckt und glorifizierend von den »guten, alten Zeiten« geschwärmt wird, wie gut, dass die Zeit nicht stehen geblieben ist. Wie wertvoll, dass aus den »Tante Liesels« und »Tante Dagmars« heute »pädagogische Fachkräfte« geworden sind. Sie waren das damals schon, aber heute werden sie auch so genannt.
Die gesellschaftliche Anerkennung gegenüber diesem Berufsstand hat sich, wenn auch viel zu wenig, durchaus positiv verändert. Dennoch fehlt mir der Glaube, dass ich eine wirklich angemessene Wertschätzung von Erzieherinnen und Erziehern, Kinderpflegerinnen und Kinderpflegern oder Krankenschwestern und Krankenpflegern in unserer Gesellschaft noch erleben werde. Es will mir einfach nicht in den Kopf, warum ein Mensch, der den ganzen Tag alte Menschen füttert, mit ihnen singt, sie wäscht und kämmt, oder ein anderer, der in seinem Arbeitsalltag kleine Kinder wickelt, mit ihnen die Welt erkundet, ihnen Toleranz und Nächstenliebe beibringt, am Ende des Monats so viel weniger verdient, als er wirklich verdient.
Dies gilt auch für die Erzieherinnen in meinen beiden Kindergärten. Besonders an meine Zeit im Schützenhof-Kindergarten habe ich gute Erinnerungen. Die zeitweise Trennung von meinen Eltern machte mir nichts aus. Oli war dort und viele andere Freundinnen und Freunde auch. Ich bespielte in dieser Zeit nicht allzu viele Bühnen, war einfach ein Kindergartenkind. Schön!
Nicht schön war die Begegnung mit Christoph, der eines Tages während des Freispiels zu mir auf einen Hügel im Außengelände des Kindergartens stieg und fragte: »Horch! Willscht e Ringkämpfel?«
Christoph war berüchtigt und so sagte ich schnell »Nein!« zu seinem Ringkampf-Angebot. Ich habe dabei aber wohl nicht sehr selbstsicher gewirkt, denn ehe ich mich versah, hatte ich seine Faust im Gesicht, fiel zu Boden und kugelte wie ein Mitglied der Blechbüchsenarmee aus der Augsburger Puppenkiste den gesamten Hügel hinunter. Leider bemerkte keiner der Erwachsenen diesen Vorfall und man hörte mir auch nicht richtig zu, als ich unter Tränen schilderte, was passiert war. Dementsprechend war ich mit der fehlenden Sanktionierung von Christoph höchst unzufrieden.
Etwas später packte ich unbemerkt meine Sachen und es gelang mir, mich aus dem Kindergarten zu schleichen. Geduckt lief ich am Jägerzaun entlang, bis ich außer Sichtweite war. Ich richtete mich auf und ging schimpfend nach Hause. Obgleich ich eine sehr befahrene Straße überqueren musste, kam ich heil an. Ja, viele Engel waren und sind mit meinem Leben beschäftigt!
Ich möchte noch einmal daran erinnern, dass zur damaligen Zeit wirklich niemand an Integration oder Inklusion gedacht hat. Ich war einfach mit dabei. »De Bernd isch de Bernd!«, hieß es. (»Der Bernd ist halt so, wie er ist.«) Und dieses Konzept funktionierte, weil ich die Unterstützung erhielt, die ich brauchte.
So einfach war es allerdings bei der Einschulung nicht. Vertreter der frisch gegründeten Landauer Sonderschule besuchten meine Eltern und warben intensiv darum, mich in ihrer Einrichtung einzuschulen. Besonders meinem Vater behagte dies irgendwie nicht. Er wollte es gern erst einmal auf einer Regelschule versuchen. Dieses Unterfangen erschien nahezu aussichtslos, doch auch hier zahlten sich seine Stärke, sein Einfühlungsvermögen und seine Überzeugungskraft aus. Seine Idee traf tatsächlich auf offene Ohren und Herzen, besonders beim damaligen Schulrat von Landau. Und so wurde ich 1974 in der heutigen Thomas-Nast-Grundschule, die damals noch Horst-Schule hieß, eingeschult.
Soweit ich mich erinnern kann, war ich dort gut integriert, und hier begann auch meine Karriere als Entertainer. Ich punktete mit meiner Ausstrahlung, meinen Witzen und meiner starken Bühnenpräsenz, die so manches Mal das Klassenzimmer ausfüllte. Einmal musizierten wir als Klasse auf einem Sommerfest. Jedes Kind spielte irgendein kleines Instrument und wir probten regelmäßig. Ich war zunächst ziemlich traurig, dass ich kein Instrument bedienen konnte, deshalb bot mir die Lehrerin an, die Triangel zu spielen. Die Triangel? Ich? Alle paar Minuten nur ein einfaches »Bing«? Von dieser Idee war ich zunächst wenig begeistert. Der Triangel-Spieler erschien mir zu weit im Hintergrund.
Am Ende spielte ich dieses Instrument aber doch, allerdings ganz und gar nicht im Hintergrund. Schon rein äußerlich war ich mit der Triangel und wie ich sie hielt und bediente, ein Hingucker. Außerdem schlug ich das Metall sehr akzentuiert und das ein oder andere Mal auch durchaus ungeplant, stets aber mit einer solch sichtbaren Freude, dass mir die Herzen des Publikums zuflogen, als hätte ich ein Violinen-Solo von Schostakowitsch dargeboten.
Trotzdem brauchte ich natürlich im Schulalltag für vieles länger als die anderen und tat mich in vielen Bereichen deutlich schwerer. Heute gibt es sogenannte Integrationshelferinnen und -helfer (oder kurz: Schulbegleitungen), um behinderte Kinder in der Schule zu unterstützen. Damals kannte man das nicht und so kam meine Mutter beispielsweise unermüdlich regelmäßig zum Sportunterricht, um mich vorher und hinterher umzuziehen. Ohne diesen Einsatz wäre mein Besuch einer normalen Grundschule nicht möglich gewesen.
Deshalb machten meine Eltern sich immer wieder Sorgen, wie ich wohl meinen schulischen Weg weiter bewerkstelligen würde. Meine Mutter äußerte diese Bedenken mehr als einmal an Elternsprechtagen gegenüber dem damaligen Rektor, der auch mein Klassenlehrer war. Voller Inbrunst und Überzeugung beruhigte er meine Mutter regelmäßig mit dem Satz: »Jo Fra Hock, machen Se sich doch kä Sorche. Der Bu macht sein Wech.« (»Ach Frau Hock, machen Sie sich doch keine Sorgen. Der Junge wird seinen Weg machen.«)
Geholfen hat diese pauschale Aussage meiner Mutter nur mäßig, recht hat er aber gehabt, der Herr Rektor, und gemocht habe ich ihn sehr.
Er war ein leidenschaftlicher Raucher, dieser Rektor. Daher gab er uns Viertklässlern mindestens einmal pro Unterrichtsstunde eine kleine Aufgabe und ging selbst vor die Tür auf den Flur, wo er sich oberhalb der Garderobe einen Aschenbecher auf ein Brett gestellt hatte. Er öffnete ein Fenster, rauchte eine Zigarette und kam zurück in die Klasse. Ich mochte den Geruch, der ihm anhaftete, eine Mischung aus Zigarettentabak und »Tabac Original«, einem Rasierwasser, welches damals viele Männer benutzten und das ich heute noch mag.
Da ist er wieder, dieser Dreiklang aus Duft, Erinnerung und bestimmten Emotionen, diesmal wieder sehr angenehm. Wenn ich jemals ein spezielles, individuelles und ganz persönliches »Bernd R. Hock-Wohlfühlparfum« kreieren sollte, müsste der Duft wohl am ehesten auf einem Jahrmarkt, am besten auf der »Landaacher Kerwe«, eingefangen werden.
In den beiden Wochen im Jahr, in denen die Landauer СКАЧАТЬ